Europa Deutschland gibt seine Führungsrolle auf

Deutschlands Haltung zur Europäischen Union hat sich grundlegend gewandelt. Die Gemeinschaft leidet darunter.

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Angela Merkel Quelle: REUTERS

In den vergangenen Wochen und Monaten fühlte sich Guy Verhofstadt häufiger an den Herbst 1989 erinnert. „Jeden zweiten Tag geschehen Dinge in der Politik und in der Gesellschaft, die man zuvor nicht für möglich gehalten hätte“, sagt der frühere belgische Premierminister, der heute die Liberalen im Europaparlament anführt.

Der Vergleich mit dem historischen Wendejahr ist nicht zu hoch gegriffen. Europa befindet sich in einer Phase des tiefen Umbruchs. Als Indiz für die völlig unerwarteten Wendungen, von denen Verhofstadt spricht, gilt auch der deutsche Alleingang Mitte Mai, als die Bundesregierung ohne jede Abstimmung mit den EU-Partnern ungedeckte Leerverkäufe verbot. Am selben Nachmittag hatte Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble noch mit seinen europäischen Kollegen im Brüsseler Ratsgebäude zusammengesessen und nicht den Hauch einer Andeutung gemacht. Am Abend erfuhren die EU-Partner aus den Presseagenturen vom deutschen Vorpreschen.

Selbstbewusste Bundeskanzlerin

Alle waren überrascht, und entsprechend harsch fielen die Reaktionen in den europäischen Hauptstädten aus. In Brüssel warnte EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier vor „regulatorischer Willkür“, und in Paris machte Frankreichs Finanzministerin Christine Lagarde deutlich, dass sie ein Minimum an Abstimmung erwarte: „Ich finde, dass jemand bei einer solchen Maßnahme zumindest den Rat der anderen Mitgliedstaaten einholen sollte.“ Am Tag danach rechtfertigte Bundeskanzlerin Angela Merkel den Schritt selbstbewusst: „In den Bereichen, in denen ein nationaler Alleingang Deutschlands keinen Schaden hervorruft, werden wir auch im nationalen Alleingang handeln.“

Innenpolitik hat Vorrang

Das Verhaltensmuster war neu. Dass eine Regierung alleine Entscheidungen trifft und die anderen vor vollendete Tatsachen stellt – das kannte man bisher vielleicht von Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, von dessen Kapriolen die europäischen Partner schon häufiger erst aus der Zeitung erfuhren. Und nun also Angela Merkel, die durch ihre zögerliche Haltung bei der Hilfe für Griechenland ohnehin schon viel Sympathie bei den europäischen Partnern verspielt hatte. „Zum ersten Mal zeigen sich die Deutschen stolz und trotzig in Europa“, beobachtet Katinka Barysch vom Thinktank Centre for European Policy Reform in London.

Deutschland ist ein EU-Mitgliedstaat wie jeder andere auch geworden. Statt die eigenen Interessen mit denen der EU gleichzusetzen, wie es jahrzehntelang Usus war, gehen in Deutschland mittlerweile eigene Interessen vor – und wenn es nur darum geht, dem Wähler entschlossenes Vorgehen gegen Spekulanten zu demonstrieren. Auch in der Agenda der Kanzlerin hat die Innenpolitik Vorrang. Vergangene Woche verschob sie ein Treffen mit Frankreichs Präsident Sarkozy, angeblich weil sie zu beschäftigt mit dem Sparpaket war. In Paris wurden die verschobenen Prioritäten aufmerksam zur Kenntnis genommen.

Die EU-Partner müssen sich an dieses neue Deutschland erst gewöhnen. Streitschlichter, Vermittler, Antreiber – die Rolle, die Deutschland bislang innehatte, ist im Moment vakant. Es klafft eine große Lücke, von der sich nicht abzeichnet, wer sie füllen soll. Beim Gipfel an diesem Donnerstag wird sich das Machtvakuum deutlich zeigen. Die Atmosphäre dürfte bleiern sein. Um das unangenehme Treffen so kurz wie möglich zu halten, beschlossen die Staats- und Regierungschefs, den Gipfel auf einen Tag – statt der üblichen zwei Tage – zu verkürzen. Man hat sich derzeit wenig zu sagen.

Deutschland hat seine neue Rolle nicht über Nacht angenommen. Beobachter heben hervor, dass bereits die Regierung von Helmut Kohl in ihrer Endphase die europäische Integration nicht mehr bedingungslos unterstützte. „Schon damals hat man nicht mehr mit geschlossenen Augen gesagt, mehr Europa ist gut für Deutschland“, betont Janis Emmanouilidis vom Brüsseler Thinktank European Policy Centre (EPC). Auch unter Bundeskanzler Gerhard Schröder hat Deutschland eigene Interessen stärker definiert, die Belastung Deutschlands als Nettozahler thematisiert und Überregulierung aus Brüssel kritisiert.

Personalpolitik in Brüssel

Und dann kam Kanzlerin Angela Merkel, die erst einmal die perfekte Europäerin gab. Bei ihrem ersten Gipfel in Brüssel im Dezember 2005 war sie es, die in den frühen Morgenstunden bei den festgefahrenen Verhandlungen um den EU-Haushalt den Durchbruch erzielte. Und während der deutschen Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 gelang ihr das Kunststück, die 27 Mitgliedstaaten auf den Vertrag von Lissabon einzuschwören. Damals waren sich alle einig: Außer ihr hätte wohl niemand aus der versammelten Riege einen Schulterschluss erzielen können.

Doch seitdem ist sie zu „Madame Non“ mutiert, die nationale Interessen nicht mehr zwangsweise den europäischen unterordnet. So betreibt sie entschlossener als frühere Regierungen Personalpolitik in Brüssel und hievte ihren Europaberater Uwe Corsepius in die einflussreiche Position des Generalsekretärs des Rates, die er Mitte 2011 antreten wird. Sie tat alles dafür, Bundesbank-Präsident Axel Weber den Weg an die Spitze der Europäischen Zentralbank zu ebnen, obwohl dessen italienischem Gegenkandidaten Mario Draghi von Notenbankern mehr internationale Erfahrung bescheinigt wird.

Und nun soll auch noch ein Deutscher den Hilfsmechanismus für notleidende Staaten überwachen. Der frühere Generaldirektor für Wirtschaft und Währung, Klaus Regling, soll Chef der Zweckgesellschaft werden.

Briten, Franzosen und auch Staaten wie Irland und Spanien achten schon seit geraumer Zeit darauf, ihre Leute an den richtigen Stellen zu platzieren. Wenn es auch Deutschland tut, dann horchen alle auf. Dasselbe gilt für die antieuropäische Stimmungsmache. Der neue britische Regierungschef David Cameron hat in der Vergangenheit kaum eine Gelegenheit ausgelassen, die EU in ihre Grenzen zu weisen. Wenn Angela Merkel es dagegen unterlässt, für das Euro-Rettungspaket in Deutschland zu werben, wird ihr das stark angekreidet. So rüffelte Kommissionspräsident José Manuel Barroso die Kanzlerin, weil sie den Bürgern die Vorteile der Währungsunion nicht erklärt habe: „Ich wünsche mir von der deutschen Führung, dass sie für Europa eintritt.“

Für die EU ist die neue deutsche Haltung ein schwerer Schlag. Deutschland fühlt sich nicht mehr so verantwortlich für den Zusammenhalt der Gemeinschaft, wie das lange der Fall war. Aber wer tut es dann? Die Kommission fällt für diese Rolle aus, zu sehr haben die Mitgliedstaaten Kommissionspräsident José Manuel Barroso in den vergangenen Monaten aus dem Zentrum des Geschehens herausgedrängt. In der Euro-Krise wurde er von den Staats- und Regierungschefs zum Statisten degradiert. Indem sie eine eigene Gruppe zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts unter Ratspräsident Herman Van Rompuy eingesetzt haben, machten sie deutlich, dass sie von Vorgaben der Kommission wenig halten.

Ferne Vision

Es fehlt nicht nur ein Schlichter in Europa, auch ein Impulsgeber zeichnet sich nicht ab. Großbritannien hat kein Interesse an einer weiter gehenden europäischen Integration. Frankreich ist in der Theorie proeuropäisch, kneift aber gerne, wenn es – zum Beispiel beim Energie-Binnenmarkt – konkret wird. Belgien, dessen früherer Premier Verhofstadt in einem Buch einst seine Vision der Vereinigten Staaten von Europa skizzierte, ist seit Jahren wegen des Streits zwischen Flamen und Wallonen paralysiert. Wenn das Land am 1. Juli die EU-Präsidentschaft übernimmt, hat es mit Sicherheit keine neue Regierung, denn nach den Wahlen vom Sonntag dürfte es eine Weile dauern, bis eine Koalition steht.

Polen, das sich jüngst überraschenderweise sogar am Rettungsmechanismus für Länder in Finanzschwierigkeiten beteiligt hatte, obwohl es kein Mitglied der Euro-Zone ist, könnte vielleicht eines Tages eine wichtigere Rolle spielen – aber doch erst in der fernen Zukunft. Beobachter wie EPC-Experte Emmanouilidis halten deshalb flexible Führungskoalitionen in bestimmten Bereichen für eine wahrscheinliche Variante.

Vorvergangene Woche einigten sich 14 der 27 EU-Staaten auf einheitliche Regeln für die Scheidung binationaler Ehen. Erstmals wurde das Verfahren der verstärkten Zusammenarbeit genutzt, bei dem ein EU-Gesetz nur in einem Teil der Gemeinschaft gilt. Lange Zeit hat gerade Deutschland für Einheitlichkeit gekämpft, weil es einen Flickenteppich vermeiden wollte. Doch das hat sich nun geändert. Die EU wird wahrscheinlich in Zukunft häufiger auf die „verstärkte Zusammenarbeit“ zurückgreifen. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sprach bei der Abstimmung zur Scheidung von einem „historischen Moment“. Das war es auch. Aber in einem ganz anderen Sinn, als sie es meinte.

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