Flüchtlinge Die unerträgliche Ungewissheit der Afghanen

Syrische und irakische Flüchtlinge können in Deutschland fast sicher davon ausgehen, dass sie bleiben dürfen. Migranten vom Balkan haben nur geringe Chancen. Sehr viel unklarer ist die Lage der Afghanen.

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Afghanische Flüchtlinge wissen nicht, ob sie in Deutschland bleiben dürfen. Das belastet viele. Quelle: dpa

Berlin Mit Schrecken sehen die 75 Menschen in dem kleinen Schlauchboot, wie das Wasser eindringt. Es steigt schnell an und bedeckt die Taschen mit Kleidung und Erinnerungsstücken von daheim. Der Afghane Dschawad rückt eng mit seiner Frau, Tochter und seinem kleinen Sohn zusammen. Er beginnt zu beten.

„Wir standen kurz vor dem Sinken. Alle Kinder haben geweint“, schildert der 25-Jährige die dramatische Situation. „Auch wir haben geweint. Wir hatten keine Hoffnung.“ Dann kam die Rettung: ein griechisches Patrouillenboot. Dschawad und seine Familie wurden nach Griechenland gebracht und machten sich dann auf die lange Reise nach Deutschland – ihr neues Zuhause, wie sie hofften.

Die Erinnerung an jenen schrecklichen Tag der Angst auf dem Wasser wird immer wieder lebendig, wenn Dschawad die deutsche Bundesregierung davon sprechen hört, afghanische Flüchtlinge in ihr Land zurückzuschicken. Seine Augen füllen sich mit Tränen, wenn er an die Möglichkeit denkt, dass Deutschland seiner Familie nach all dem, was sie durchgemacht hat, Asyl verweigern könnte.

„Meine Familie ist es wert“, sagt er leise in dem Asylbewerberheim in Berlin-Wilmersdorf, wo die vier jetzt leben. „Man muss uns nur die Chance geben.“ Wie viele andere Afghanen sind Dschawad und seine Familie zutiefst von der neuen Strategie von Bundeskanzlerin Angela Merkel verunsichert, die helfen soll, den massiven Zustrom von Migranten zu bewältigen.

Die Prozeduren für diejenigen, die – wie Syrer und Iraker – nahezu sicher davon ausgehen können, dass ihnen Asyl gewährt wird, werden geglättet. Umgekehrt werden Migranten, die kaum Aussicht auf Asyl haben – etwa jene vom Balkan – rascher abgeschoben. Irgendwo dazwischen befindet sich die Gruppe der Afghanen, die gute Chancen haben, dass sie bleiben dürfen, aber dazu aufgerufen werden, doch nach Hause zurückzukehren oder ihre Heimat erst gar nicht zu verlassen.

Innenminister Thomas de Maizière hat erklärt, dass Menschen aus Afghanistan nicht erwarten könnten, dass man ihnen das Bleiben ermögliche. Insgesamt betont die Bundesregierung immer wieder, dass weniger als der Hälfte afghanischer Asylanträge stattgegeben werde. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus.


Zahl der Abschiebungen steigt

Denn diese Zahl enthält nicht nur Fälle, in denen ein Asylantrag in der Sache selber abgelehnt wurde, sondern auch solche, in denen ein anderes europäisches Land zuständig ist, ein Migrant Deutschland freiwillig verlassen oder einen Deutschen geheiratet hat. Zieht man diese Fälle ab, dann liegt die Zahl der genehmigten Asylanträge näher bei 80 Prozent, wie die Organisation Pro Asyl vorrechnet.

„Viele von ihnen (der Afghanen) sind in Panik geraten, obwohl wir versucht haben, sie davon zu überzeugen, dass ihre Chancen hier relativ hoch sind“, sagt Bernd Mesovic, stellvertretender Pro-Asyl-Chef. Die deutsche Regierung rede Unsinn, um die Afghanen vom Kommen abzuhalten oder sie dazu zu bringen, aus freien Stücken in die Heimat zurückzukehren.

Die Zahl der Abschiebungen aus Deutschland ist gestiegen, 2015 gab es doppelt so viele wie 2014. Aber dennoch waren es im vergangenen Jahr nur 20.888 Menschen, die meisten von ihnen vom Balkan. Nur neun Migranten wurden 2015 nach Afghanistan zurückgeschickt, zwei in den Irak und niemand nach Syrien.

Aber der Kurs, Menschen davon zu überzeugen, dass es besser sei, freiwillig zu gehen oder noch besser erst gar nicht zu kommen, hat größere Erfolge gezeigt. 2015 kehrten so 37.220 Menschen aus freien Stücken nach Hause zurück, hauptsächlich auf den Balkan. Zugleich wurde aus dem Zustrom der Migranten aus diesen Ländern ein Rinnsal.

Aber bei den Afghanen findet die Strategie der Bundesregierung bisher wenig Anklang. Berlin argumentiert, dass es in Afghanistan trotz anhaltender Probleme bei der Stabilisierung des Landes sichere Gebiete gebe. Außenamtssprecher Martin Schäfer ging sogar so weit zu sagen, dass „die Terrorattacken der Taliban sich nicht gegen das afghanische Volk richten“, sondern gegen die afghanischen Sicherheitskräfte. Aber einem Uno-Report zufolge sind allein im ersten Quartal 2016 600 Zivilisten in dem Land getötet worden, 1.343 wurden verletzt.

Haben neue Grenzkontrollen dieses Jahr bisher insgesamt zu einer drastischen Verringerung der Migrantenzahl geführt, so blieben die Afghanen im April nach den Syrern die zweitgrößte Gruppe, die nach Deutschland kam. 2015 waren unter den insgesamt 1,1 Millionen erfassten Ankömmlingen 428.468 Syrer, 154.046 Afghanen und 121.622 Iraker.

Insgesamt bewarben sich im vergangenen Jahr 476.649 Menschen um Asyl. Syrer waren zu 96 Prozent damit erfolgreich, Eritreer zu 92 Prozent und Iraker zu etwa 89 Prozent. Auf der anderen Seite wurden nur 0,1 Prozent der Asylanträge von Serben stattgegeben, bei Albanern waren es 0,2 Prozent und bei Migranten aus dem Kosovo 0,4 Prozent.

Da im Fall der Afghanen 2015 die offizielle Quote erfolgreicher Asylbewerbungen nur bei 47,6 Prozent lag, haben sich Dschawad und andere Landsleute wie er nicht für eine gestraffte Abwicklung ihrer Anträge und rasche Zulassung zu Sprach- und anderen Integrationskursen qualifiziert. Er habe nichts dagegen, am Ende der Warteschlange zu stehen, sagt der Afghane. Aber in die Heimat zurückzukehren sei keine Option. Er und seine Familie beteten jede Nacht zu Gott, „dass wir die Antwort erhalten, dass wir hier bleiben und in Freiheit leben können“.

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