Flüchtlinge in der Türkei Öffnet Erdogan schon die Schleusen?

Die Zahl der Flüchtlinge, die aus der Türkei auf die griechischen Inseln fliehen, steigt seit vergangener Woche stark. Das befeuert Gerüchte, die Türkei könnte den Flüchtlingspakt mit der Europäischen Union aufkündigen.

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Neuangekommene Flüchtlinge auf der griechischen Insel Chios erhalten Thermodecken und Nahrung. Quelle: Reuters

Athen In den vergangenen fünf Tagen sind 566 Schutzsuchende über die Ägäis zu den griechischen Inseln Lesbos, Chios und Samos gekommen – so die offiziellen Angaben der griechischen Behörden vom Montagmittag. Damit hat sich die Zahl der Ankömmlinge gegenüber den ersten März-Wochen verdreifacht: Kamen zuvor im Schnitt 35 Menschen pro Tag, sind es seit dem vergangenen Donnerstag mehr als 100 täglich.

Experten der griechischen Küstenwache und Fachleute des Ministeriums für Migrationspolitik in Athen suchen noch nach einer Erklärung für den unerwarteten Anstieg. Ein Grund könnte das ruhige Wetter sein. In der nordöstlichen Ägäis war es am Montag bei fast wolkenlosem Himmel 17 Grad warm, es wehte ein ganz leichter Südwind – nahezu ideale Bedingungen für die Schleuser, die die Menschen in Schlauchbooten von der türkischen Küste auf die Reise zu den griechischen Inseln schicken.

In Griechenland wächst aber die Sorge, dass die türkischen Behörden den Menschenschmugglern jetzt wieder freiere Hand lassen. Die Regierung in Ankara hatte im Streit um die Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in der EU während der vergangenen Tage mehrfach gedroht, das vor einem Jahr geschlossene Flüchtlingsabkommen aufzukündigen. In dem Abkommen verpflichtete sich die Türkei, illegal nach Griechenland eingereiste Flüchtlinge und Migranten zurückzunehmen. Vergangene Woche hatte bereits Staatschef Recep Tayyip Erdogan die Vereinbarung infrage gestellt: „Was für ein Rückführungsabkommen? Das könnt Ihr vergessen!“ Auch Außenminister Mevlüt Cavusoglu und Europaminister Ömer Celik drohten mit einem Ende der Rückführungen.

Seit Inkrafttreten des Abkommens wurden allerdings ohnehin nur rund 900 Menschen aus Griechenland in die Türkei zurückgebracht. Hauptgrund sind die äußerst schleppenden griechischen Asylverfahren. Eine Aussetzung der Rücknahmen hätte deswegen keine großen Auswirkungen. Viel brisanter wäre es, wenn die Türkei jetzt die Schleusen öffnet. 2016 hatten die türkischen Behörden die Kontrollen an der Küste verschärft. Nach Angaben der türkischen Küstenwache wurden im vergangenen Jahr 37.130 Flüchtlinge in türkischen Gewässern aufgegriffen und an der Überfahrt gehindert.

Zum Vergleich: Seit Inkrafttreten des Flüchtlingsabkommens schafften es 27.711 Menschen nach Griechenland. Im Januar und Februar 2017 wurden auf den griechischen Inseln 2.379 Ankömmlinge aus der Türkei gezählt. Im gleichen Zeitraum fing die türkische Küstenwache nach eigenen Angaben 1040 Menschen bei der Überfahrt ab. Die Kontrollen zeigen also Wirkung. Vergangene Woche drohte jedoch der türkische Innenminister Süleyman Soylu der EU: „Wenn Ihr wollt, schicken wir Euch jeden Monat 15.000 Flüchtlinge. Das wird Euch umhauen!“

Diese Ankündigung sorgt in Bulgarien für erhöhte Wachsamkeit. Am Wochenende inspizierten die Innen- und Verteidigungsminister die Grenzanlagen zur Türkei. Zuvor hatte bereits Regierungschef Ognjan Gerdschikow verschärfte Sicherheitsvorkehrungen an der Grenze zur Türkei angeordnet.

Auch auf den griechischen Inseln wächst die Sorge. Dort hatte sich die Situation in den Flüchtlingslagern in den vergangenen Wochen gerade etwas entspannt, nachdem Flüchtlinge aufs Festland umgesiedelt worden waren. Jetzt wird es durch die Neunankömmlinge wieder enger in den Camps. Den größten Andrang verzeichnete die Insel Chios mit 341 Ankünften seit Donnerstag. „Wir hätten nicht einmal 50 zusätzliche Neuankömmlinge verkraften können“, sagte der Bürgermeister der Insel, Manolis Vournous, der Zeitung „Ethnos“. Weil die Lager belegt sind, müssen die neu ankommenden Menschen provisorisch in Zelten untergebracht werden.

Nach offiziellen Angaben vom Montag warten derzeit 14.262 Menschen auf den griechischen Inseln darauf, dass ihre Asylanträge bearbeitet werden. Erst dann dürfen sie weiterreisen – oder werden in die Türkei zurückgeschickt, sofern sie kein Asyl bekommen. Bei den Neuankömmlingen handelt es sich nach inoffiziellen Angaben der griechischen Behörden nur noch zu etwa 20 Prozent um Flüchtlinge aus Kriegsgebieten wie Syrien und Afghanistan. Die große Mehrheit sind Menschen aus afrikanischen und asiatischen Ländern, die aus wirtschaftlichen Gründen in die EU wollen – und kaum Anspruch auf Asyl haben.

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