Flüchtlinge in Europa Minderjährig, flüchtig, kriminell

Sie verkaufen Drogen in Rom, stehlen in Stockholms Supermärkten oder versuchen in Calais den Sprung nach Großbritannien: In Europa leben Tausende minderjährige Flüchtlinge auf der Straße – weil sie müssen.

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Der 17-jährige Suleiman (rechts) aus Marokko war mehrere Male aus Aufnahmelagern verschwunden. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, nun fristet er sein Dasein auf den Straßen von Stockholm. Dort gehört der Jugendliche aus Casablanca zu Dutzenden marokkanischen Jungen, die in Supermärkten der schwedischen Hauptstadt Essen stehlen. Wie der 17-jährige Marawan aus Casablanca und der 17-jährige Yusuf (Mitte). Quelle: AP

Rom Wie die Erwachsenen kommen auch die minderjährigen Flüchtlinge in der Hoffnung auf Sicherheit und ein besseres Leben nach Europa. Doch viele verschwinden anschließend aus Erstaufnahmelagern oder anderen Einrichtungen – und schlagen sich auf Europas Straßen alleine durch. Europol schätzt ihre Zahl auf mindestens 10.000. Nicht wenige rutschen in die Kriminalität ab, werden bei illegalen Jobs ausgebeutet oder verkaufen ihren Körper gegen Kleidung und Bargeld, wie die Nachrichtenagentur AP in Gesprächen von Jugendlichen erfuhr.

Das Phänomen der Minderjährigen ohne Familie gibt es in ganz Europa. In den Menschenmengen der Großstädte gehen sie oft unter und führen ein Schattendasein auf den Straßen – doch ihre Anzahl wächst nach Beobachtung von Experten beständig. Diese unbegleiteten Minderjährigen fallen durch die Maschen eines europäischen Systems, das nach dem großen Flüchtlings- und Migrantenstrom von 2015 ohnehin am Rande des Kollapses steht. Und sie stellen eine der größten Herausforderungen der gegenwärtigen Flüchtlingskrise dar.

Das Problem ist zwar nicht neu, doch die schiere Anzahl von Migranten und Flüchtlingen, die 2015 in die EU kamen, hat es nun akut werden lassen. Fast 90.000 der Asylsuchenden waren nach Daten des EU-Statistikamtes Eurostat minderjährig – neunmal mehr als noch 2012.

Rund die Hälfte sei aus Asylbewerberheimen oder anderen Unterkünften innerhalb von zwei Tagen nach ihrer Ankunft verschwunden, so Missing Children Europe, ein Verband aus nichtstaatlichen Organisationen in 24 Ländern. Die Gründe dafür: Einigen dauert es zu lange, bis sie legalen Status haben, andere haben Angst, zurück in ihre Heimatländer oder gemäß dem Dublin-Verfahren in das erste EU-Land ihrer Ankunft geschickt zu werden. Dritte wiederum kommen bei Familienangehörigen unter oder wollen ihr Glück einfach auf eigene Faust versuchen.

Der 13-jährige Imran floh aus Afghanistan, nachdem sein Vater vor Jahren schon von den Taliban ermordet worden war und auch er immer öfter Drohungen erhielt, wie der Jugendliche der AP erzählt. Seine Mutter habe das Haus verkauft, um Schlepper zu bezahlen, die ihn zu seinem Onkel nach Großbritannien bringen sollten.

Doch Imran, dessen Traum ein Medizinstudium wäre, hängt nach einer Flucht durch acht Länder und meist zu Fuß in Frankreich im berüchtigten Lager von Calais – dem Dschungel – fest. Dort versucht er nun fast jede Nacht, auf Lastwagen aufzuspringen, die durch den Eurotunnel nach Großbritannien fahren. „Wenn meine Mutter wüsste, dass ich im 'Dschungel' gelandet bin, wäre sie sehr traurig....Ich will ihr das nicht sagen.“

EU-Beamte betonen, sie hätten Mechanismen entwickelt, um diese Minderjährigen schneller mit ärztlicher Hilfe zu versorgen oder sie schneller bei Verwandten unterzubringen. „Europäische Rechtssprechung zollt den Rechten und Bedürfnissen unbegleiteter Minderjähriger, die Asyl suchen, besondere Aufmerksamkeit“, sagt EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos der AP. „Diese Regelwerke auch umzusetzen, ist unsere Priorität.“

Die Suche nach jugendliche Migranten, die aus Unterkünften in Europa verschwinden, gestaltet sich schwierig. Meist fehlen Kontaktpersonen, die der Polizei dies melden könnten. Und wird ein Fall bekannt, hat die Polizei meist nicht genügend Informationen wie Fotos, Fingerabdrücke oder persönliche Daten, um den verschwundenen Jugendlichen aufzuspüren.


Drogenverkauf und Diebstahl

Der 17-jährige Suleiman aus Marokko war mehrere Male aus Aufnahmelagern verschwunden. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, nun fristet er sein Dasein auf den Straßen von Stockholm. Dort gehört der Jugendliche aus Casablanca zu Dutzenden marokkanischen Jungen, die in Supermärkten der schwedischen Hauptstadt Essen stehlen. Schweden hat bei weitem die meisten unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden aufgenommen. Allein 2015 waren es mehr als 35.000. Im Oktober hatten Behörden in der Hafenstadt Trelleborg berichtet, dass etwa 1000 unbegleitete Jugendliche Flüchtlinge nach ihrer Ankunft im September verschwunden seien.

Die größte Gefahr für minderjährige Flüchtlinge und Migranten sei der Absturz in die Kriminalität, heißt es bei Europol. Auch diese Tendenz werde sich verstärken, befürchten die Experten. „Sie (die Minderjährigen) sind verletzlich, verstehen die rechtlichen Vorgänge oftmals nicht und werden manchmal als Illegale behandelt“, sagt Robert Crepinko von einer Europol-Sondereinheit. Erwachsene setzten Minderjährige etwa für Drogenhandel ein, weil die Strafe für sie nicht so hoch sei und auch die Gefahr einer Festnahme niedriger, weiß Emanuele Fattori, Chef der Polizei am Römer Hauptbahnhof Termini.

Oftmals fühlen sich die Jugendlichen verpflichtet, ihren Eltern das für Schlepper aufgebrachte Geld zurückzuzahlen. Alle der elf von AP befragten ägyptischen Jugendlichen bestätigten dies. Dabei geht es nicht selten um bis zu 3000 Euro – auch das macht sie empfänglich für illegale Geldquellen und Ausbeutung.

Der 18-jährige Abib aus Ägypten kam als Minderjähriger nach Italien und räumt offen ein, Drogen zu verkaufen. „Ich kaufe Drogen für 50 oder 100 Euro ein und kann über den Tag 200 bis 300 Euro verdienen“, sagt er. Manchmal heuerten Leute einen Minderjährigen an, um große Mengen an Drogen auf Schulhöfe zu bringen, für 30 oder 50 Euro, sagt er. In Roms Hauptbahnhof Termini laufe auch das Geschäft Sex gegen Bargeld oder Kleidung, berichtet Abib. Dort sei ein pädophiler katholischer Priester kürzlich festgenommen worden, als er Minderjährige bezahlt habe, so Polizeichef Fattori.

Auch illegale Arbeiten in Autowaschanlagen oder in Obstgroßmärkten gehören oft zum Alltag der Minderjährigen. Nicht selten bekommen sie nur zwei bis drei Euro pro Stunde oder werden am Ende eines Jobs um einen Teil ihres Lohnes gebracht, wie die Hilfsorganisation Save the Children Italy berichtet. „Es ist sehr schwierig, einen Minderjährigen zu finden, der diese Art von Ausbeutung der Polizei meldet, weil sie Angst haben, nie wieder einen Job zu bekommen“, sagt Antonio Di Maggio von der römischen Polizei. „Es gibt eine große Verschwörung des Schweigens.“

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