Rund 270 000 der syrischen Flüchtlinge in der Türkei leben registriert in Lagern, der Rest bewegt sich frei, zumeist in den Großstädten des Landes. Die drei beschriebenen Personen, der Unternehmer, der bettelnde Junge und der Falafel-Verkäufer auf dem Absprung, stehen für drei Szenarien, wie es in den nächsten Jahren mit den unzähligen Flüchtlingen in der Türkei weitergehen kann: Erfolg, Elend oder Weiterziehen. Denn freiwillig dort bleiben wird nur, wer auch eine Chance hat. Die anderen dürften weiter versuchen, in andere Länder Europas und vor allem nach Deutschland zu gelangen, schon weil der Krieg immer näher an die Türkei rückt, wie in der Grenzstadt Kilis zu besichtigen ist. Das Heulen der Sirenen der Krankenwagen vermischt sich dort mit dem Donner von Bomben. Die Teeverkäufer nahe der Grenze, viele von ihnen ehemalige Kämpfer der syrischen Rebellen, haben daraus ein Spiel gemacht: Sie versuchen am Geräusch der Detonation zu erkennen, ob es sich um einen russischen Bomber oder türkische Artillerie handelt. 50 000 Menschen sollen auf der anderen Seite in Lagern warten, auf der Flucht vor den russischen Bomben und den Truppen von Syriens Diktator Baschar al-Assad. Noch ist die Grenze dicht.
Wie lange noch? Schon jetzt leben in Kilis – 129 000 Einwohner zu Friedenszeiten – beinahe noch einmal so viele Flüchtlinge, weiß Mehmet Kesmetovulu, der von einem Plastikstuhl aus syrische Frauen bei der Essensausgabe beobachtet. Der 52 Jahre alte Türke, hauptamtlich Betreiber eines kleinen Lebensmittelladens, leitet ehrenamtlich eine Hilfsorganisation für syrische Flüchtlinge. „Vieles ist besser geworden, seitdem die Syrer hier sind“, sagt er. „Früher schlossen die Geschäfte um 17 Uhr, weil nichts mehr los war. Heute haben sie bis nachts geöffnet.“ Und noch etwas fällt auf: Eine türkische Pegida-Variante, fremdenfeindliche Demonstrationen oder gar brennende Flüchtlingsunterkünfte gibt es in der Türkei bisher nicht. Und doch sprechen immer mehr Türken von einer Belastungsgrenze für ihren Staat, etwa Volkan Vural, Vorstandsmitglied des Unternehmerverbands Tüsiad. Er sieht die Türkei akut überlastet. „Wir sind nicht mehr weit davon entfernt, unsere Obergrenze zu überschreiten.“ Denn die vielen neuen Einwohner in grenznahen Gegenden wie Kilis treiben die Preise hoch, vor allem die Mieten. Die türkische Regierungspartei AKP hat mühsam erreicht, die Inflation im Land durch harte Wirtschaftsreformen unter Kontrolle zu bringen. Jetzt liegt die aber schon wieder bei über neun Prozent, und die Prognosen seien nicht rosig, sagt Vural, schon weil 90 Prozent der syrischen Flüchtlinge so gut wie keine Qualifikationen mitbrächten.
Sie fänden vielleicht Arbeit auf dem Bau oder in der Landwirtschaft, würden aber Geringverdiener oder von staatlicher Hilfe abhängig bleiben. Allein 500 000 Flüchtlingskinder müssten in die Schule und später eine Ausbildung erhalten, warnt Vural, sonst entstünde bald eine Art junges Lumpenproletariat. Seit dem 15. Januar dieses Jahres erhalten syrische Flüchtlinge in der Türkei offiziell nach einem halben Jahr eine Arbeitserlaubnis. Aber geheuer scheinen die vielen günstigen Arbeitskräfte der Regierung nicht zu sein. Gerade erst hat sie den Mindestlohn auf 1300 türkische Lira pro Monat angehoben, rund 420 Euro. Auch legte sie fest, dass der Anteil syrischer Beschäftigter in einem türkischen Betrieb zehn Prozent nicht übersteigen darf. Natürlich halten sich viele Unternehmer nicht an diese Vorschriften, so wie Kemal Efendis, Eigentümer einer Näherei mit 30 Angestellten nicht weit vom Stadtzentrum in Kilis. Fotografieren lassen will sich der Unternehmer nicht.