Flüchtlingsdrama auf dem Balkan „Ich will nur mein Kind retten“

Ein Gerücht treibt Flüchtlinge am Montag an die griechisch-mazedonische Grenze. Doch statt eines geöffneten Übergangs erwartet sie Stacheldraht. Panik bricht aus, es gibt Verletzte – darunter auch Kinder.

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Flüchtlinge versuchten, die griechisch-mazedonische Grenze zu stürmen. Die Polizei setzte daraufhin Tränengas ein. Quelle: dpa

Athen Wie ein Lauffeuer verbreitet sich um die Mittagszeit an der griechischen Grenze zu Mazedonien bei Idomeni ein Gerücht: „Die Grenze ist auf! Los, los, sie ist offen!“ schreit ein aufgeregter junger Migrant. Die Szene wird live vom griechischen Fernsehen übertragen. Chaos bricht aus. Hunderte Flüchtlinge lassen ihre Habseligkeiten zurück, schnappen ihre Kinder und laufen Richtung Grenzzaun. Dort erwartet sie die bittere Realität der Balkanroute: Die von Mazedonien errichtete Barriere bleibt geschlossen. 

Vielen der Menschen, die von einer Zukunft in Deutschland oder anderen Ländern träumen, packt die Wut. Mit Tränen in den Augen schreien sie: „Wir wollen los! Macht den Zaun auf!“ Auf der anderen Seite des Zauns bringt sich mazedonische Bereitschaftspolizei in Stellung: Mit Helmen und Schildern geschützt eilt sie zur Grenze. Die Luft wird dicker, berichten Reporter des griechischen Fernsehens.

Die Bilder zeigen, wie Steine fliegen. Einige kräftige Migranten fangen an, den Zaun niederzureißen. Sie ziehen an den teils scharfen Drähten, rütteln hin und her, bis ein Pfahl und schließlich ein großes Stück des Zauns nachgeben und fallen. „Nur durch ein Wunder hatten wir keine Verletzten“, sagt ein Fotograf, der das Geschehen abbildet. Jetzt stehen sich Flüchtlinge und Polizisten Antlitz zu Antlitz gegenüber.

Die Bereitschaftspolizisten auf der mazedonischen Seite fürchten von den Migranten überrannt zu werden. Sie setzen massiv Tränengas ein. Binnen Sekunden bricht neue Panik aus, die Flüchtlinge laufen zurück, stolpern, stürzen, trampeln sich nieder. Mindestens 15 Verletzte zählen Hilfsorganisationen später - darunter neun Kinder, viele mit Atemwegsbeschwerden.

„Wenn das so weiter geht, wird es - fürchte ich - bald Opfer geben“, sagt griechischer Grenzpolizist im Rundfunk. Eine Entspannung ist nicht in Sicht: Der Flüchtlingszustrom von der Türkei über die griechischen Inseln in der Ägäis und weiter auf das Festland reißt nicht ab. Und die Balkan-Staaten sowie Österreich lassen nur noch wenige Flüchtlinge und - wie im Falle Mazedoniens - nur noch bestimmte Nationalitäten durch.

Menschen, die Tausende Kilometer aus Afghanistan, Pakistan, Irak und Syrien, aber auch aus Nord-Afrika gereist sind, kommen täglich in Griechenland an. Alle Aufnahmelager sind restlos überfüllt. Tausende Menschen harren auf öffentlichen Plätzen aus oder sind mit allen möglichen Mitteln und auch zu Fuß unterwegs zur Grenze im Norden. 


Szenen des Elends in Athen

Szenen des Elends spielen sich auch in und um den Viktoria-Platz in Athen ab, der als Drehscheibe der Aktivitäten von Schleuserbanden gilt. Am Montag halten sich mehr als 600 Menschen, darunter Familien mit Kleinkindern, hier auf. Kinder schreien und weinen. Es stinkt nach Urin. Öffentliche Toiletten gibt es nicht.

Mütter flehen Passanten und Journalisten an, ihnen zu helfen, nach Mitteleuropa zu kommen: „Bitte, bitte, ich will nur mein Kind retten.“ Viele Migranten zeigen sich entschlossen: „Wir werden entweder weiterfahren (nach Mitteleuropa) oder wir werden hier sterben“, sagen sie Reportern.

Dutzende Einwohner Athens sowie freiwillige Helfer aus den Niederlanden, Spanien, Italien und Südkorea verteilen Lebensmittel an die Menschen am Viktoria-Platz und in der Hafenstadt Piräus. „Sehr viele Kinder sind erkältet. Ich fürchte, wir werden bald Lungenentzündungen haben“, sagt eine griechische Ärztin im Fernsehen.

Das Elend hindert die Menschenschlepper nicht daran, den Menschen neue Angebote zu machen. „Für 3000 Euro pro Kopf versprechen sie uns über „neue geheime Wege“ nach Deutschland zu bringen“, sagte ein Familienvater aus Afghanistan im Fernsehen.

Dies bestätigt auch ein Offizier der Küstenwache der Deutschen Presse-Agentur: „Die Menschenschmuggler-Bosse arbeiten bereits daran, neue Wege zu finden.“ Menschenschmuggel sei sehr lukrativ. „Mehr als der Drogenhandel“, sagt der Offizier. 

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