Flüchtlingskrise Auch Flüchtlinge haben Angst

Wegen des Kriegs in ihrer Heimat sind Flüchtlinge schon einmal Opfer geworden. Wegen Fremdenfeindlichkeit drohen sie ein zweites Mal zum Opfer zu werden, meint der palästinensische Journalist und Flüchtling Serhan.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Unter Lebensgefahr fliehen Flüchtlinge aus Syrien und anderen Krisenländern nach Europa. Dort schlägt ihnen vielerorts Fremdenfeindlichkeit und auch Hass entgegen. Quelle: dpa

Berlin Am Samstagnachmittag werden rechtspopulistische und rechtsextreme Gruppen gegen den Flüchtlingszustrom protestieren. Unter dem Motto „Wir für Deutschland - wir sind das Volk - Angela Merkel muss weg“ wollen sie auf die Straße ziehen. Das hat schon Gegendemonstranten auf den Plan gerufen. Linke Gruppen und Parteien haben Demonstrationen unter dem Motto „Refugees welcome“ angemeldet.

Was sagen die Betroffenen selbst? Was meinen Flüchtlinge über die Kritik und teils Anfeindung, die ihnen in Europa entgegenschlägt? Ein Gastbeitrag des palästinensischen Journalisten Mahmoud Serhan, der als Flüchtling in Berlin lebt.

Sie sind vor Terrorismus und Tyrannei aus ihrer Heimat geflohen – doch in den Ländern, in denen sie Asyl suchen, stoßen die Flüchtlinge auf den wachsenden Terror rechtsextremer Gruppen. Der Umstand, dass immer mehr Flüchtlinge nach Europa kommen, wird hierzulande gemeinhin mit dem Wort „Krise“ umschrieben. Wenn es um die finanziellen und politischen Auswirkungen geht, mag das ja stimmen. Aber vieles wird auch übertrieben, vor allem von gewissen radikalen Wortführern in Europa, die rufen: „Fürchtet die Flüchtlinge!“

Sie behaupten, es gut zu meinen, doch in Wahrheit verbreiten sie die giftige Idee, dass es nicht möglich ist, Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund in diese Gesellschaft zu integrieren. Sie sagen, dass diese Menschen gefährlich sind. Dabei ignorieren sie die Tatsache, dass es viele Beispiele für gelungene Integration in Europa gibt, sei es im akademischen, politischen oder wirtschaftlichen Bereich. Viele ehemalige Einwanderer spielen heute eine aktive Rolle in ihrer neuen Gemeinschaft.

In Frankreich haben die Attacken gegen Flüchtlinge zuletzt erschreckende Ausmaße angenommen – ausgerechnet in dem Land, das der Welt die Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit schenkte, das Land von Rousseau und Voltaire. Viele Franzosen sind wieder hinter die Ideen der Aufklärung zurückgefallen, sie sperren sich ein in eine dunkle Kiste namens Islamophobie. 

Das französische Satiremagazin Charlie Hebdo hat schon dreimal das Bild von Aylan Kurdi in beleidigender Weise missbraucht. Die Leiche des dreijährigen Jungen aus Syrien wurde im vergangenen Jahr an einem türkischen Strand angespült. Das Foto, auf dem das tote Kind mit dem Gesicht zum Boden gerichtet liegt, ging um die Welt und rief eine Welle der Sympathie für die Kriegsflüchtlinge hervor. Nach den Ereignissen in der Silvesternacht in Köln druckte das Magazin eine Karikatur des Bildes und schrieb dazu: „Was wäre aus dem kleinen Aylan geworden, wenn er groß geworden wäre? Ein Hinterngrapscher in Deutschland.“

Die Aktion war stark umstritten, besonders unter Flüchtlingen. Vor dem Hintergrund der wachsenden Zustimmung für den rechtsextremen Front National und einer steigenden Zahl von ausländerfeindlichen Übergriffen in Frankreich ist das bedauerlich. Trifft diese Karikatur doch dieselben Menschen ins Herz, die ein Jahr zuvor, nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo, ihre Solidarität mit der Redaktion erklärt hatten.


Zwischen Angst und Hass unterscheiden

Schockierende Stimmen kommen auch aus Deutschland, Heimat des großen Aufklärers Immanuel Kant. Die Mitglieder der populistischen Partei Alternative für Deutschland scheinen dieses Erbe vergessen zu haben. Führende Mitglieder sprachen sich dafür aus, Schusswaffen an den Grenzen zu gebrauchen, um illegale Flüchtlinge von der Einreise nach Deutschland abzuhalten.

Damit haben sie nicht nur das Gedankengut der Aufklärung, sondern scheinbar auch die deutsche Verfassung vergessen, die es verbietet, auf Menschen zu schießen, die nichts anderes im Sinn haben, als ihr Leben retten. Nach scharfer Kritik musste die Partei zurückrudern. Doch zurücknehmen lassen sich die Worte nicht. Und sie fallen auf fruchtbaren Boden. 2015 gab es fünfmal so viele Anschläge mit ausländerfeindlichem Hintergrund wie noch ein Jahr zuvor.

Ich glaube, wir müssen zwischen Angst und Hass unterscheiden. Europäer haben das Recht darauf, Ängste zu haben. Doch wenn manche radikale Wortführer über Angst sprechen, verbergen sie dahinter in Wahrheit ihren Hass.

Sie manipulieren die Bürger, um politisch Profit zu ziehen und nehmen in Kauf, dass ihre Politik die europäischen Grundwerte beschädigt. Die radikalen Wortführer ignorieren auch die vielen ernsthaften Bemühungen für eine friedliche Koexistenz von Flüchtlingen und der europäischen Gesellschaft.

Die Flüchtlinge sind schon einmal Opfer geworden, sie sind Opfer des Krieges, der Tyrannei und des Terrorismus in ihren Heimatländern. Sie kamen nach Europa in der Hoffnung, ihr Leben und die Zukunft ihrer Kinder zu retten, bis der Krieg endet und sie wieder nach Hause können. Es sind nicht nur die Einheimischen, die Angst haben. Wir Flüchtlinge haben auch Angst.

Mahmoud Serhan ist ein palästinensischer Journalist, der lange Zeit in Syrien gearbeitet hat. Er lebt als Flüchtling in Berlin.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%