Flüchtlingskrise Kein Leben in Europa

Die ersten Flüchtlinge müssen sich von einem Leben in Europa verabschieden. Sie werden in die Türkei zurückgeführt. Der symbolische Akt soll den Flüchtlingen zeigen, dass die Tore der EU für sie verschlossen sind.

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Die ersten Flüchtlinge müssen Griechenland verlassen. Für sie geht es zurück in die Türkei. Quelle: AFP

Lesbos/Dikili Als das türkische Passagierboot „Lesvos“ die Leinen löst, ertönen Sprechchöre im Hafen von Lesbos. „Shame on you, EU!“, „Schande über dich, Europa!“, rufen ein paar Dutzend Aktivisten, die am Montagmorgen vor Ort die erste Rückführungsaktion von Flüchtlingen und Migranten in die Türkei verfolgen. Doch schnell verstummen auch sie, und bald ist außer den Schiffsmotoren nichts mehr zu hören.

202 Menschen, vornehmlich Migranten aus Pakistan und aus nordafrikanischen Ländern, wurden mit drei kleinen Passagierschiffen von den griechischen Inseln Lesbos und Chios in die gegenüberliegende türkische Küstenstadt Dikili gebracht. Die erste Rückführungsaktion im Rahmen des Flüchtlingspakts zwischen der EU und der Türkei verlief reibungslos – dafür sorgte auf Lesbos und Chios ein großes Aufgebot griechischer Polizisten und Mitarbeiter der EU-Grenzschutzagentur Frontex.

Nach Angaben der griechischen Polizei gab es auch zuvor im „Hotspot“ von Lesbos kein Problem, als die Flüchtlinge zu den Bussen geleitet wurden, die sie zum Hafen brachten. Überprüfen ließ sich das allerdings nicht – die Polizei patrouilliert mittlerweile vor dem Auffanglager und um den „Hotspot“ herum. Fotografieren – selbst von außen – ist dort neuerdings ebenso verboten wie das Gespräch mit den Lagerbewohnern durch den meterhohen Maschendrahtzaun hindurch.

Dafür spricht die Körpersprache der Menschen Bände, die am Hafen umringt von Sicherheitsleute die Boote besteigen. Die Schultern gebeugt, das wenige Hab und Gut in kleinen Rucksäcken, werfen sie keinen einzigen Blick zurück. Lediglich zwei Syrer sollen unter ihnen sein – sie hätten sich wegen familiärer Umstände in der syrischen Heimat freiwillig zur Rückreise gemeldet, heißt es. Alle anderen hatten laut Katarina Kittidi, UNHCR-Mitarbeiterin auf Chios, als Staatsbürger „sicherer“ Herkunftsländer ohnehin keinen Anspruch auf Asyl oder haben keinen Asylantrag gestellt.

Das Passagierschiff „Nazli Jale“ ist das erste der drei Boote, das kurze Zeit später im 25 Kilometer östlich gelegenen Dikili ankommt. Türkische Beamte gehen an Bord und schütteln den Vertretern von Frontex die Hände. Dann verlassen die Migranten einer nach dem anderen das Schiff. Sie werden zur Registrierung in drei Zelte gebracht, die am Hafen aufgeschlagen wurden; anschließend steigen sie in Busse, mit denen es zu türkischen Auffanglagern gehen soll.


„Schnellverfahren“ dürfte nicht schnell genug sein

Auch in Dikili geht die Prozedur völlig ruhig vonstatten. Am Strand entwirren ein paar Fischer ihre Netze; sie berichten von einer Gruppe Flüchtlinge, die gerade erst am Morgen von der türkischen Küstenwache an der Überfahrt nach Lesbos gehindert worden sei. Ob also diese erste Rückführung wirklich den Anfang vom Ende des unkontrollierten Flüchtlingszustroms in die EU markiert?

Fast alle Flüchtlinge in den „Hotspots“ der griechischen Inseln haben mittlerweile Asyl beantragt. Es sei zwingend nötig, endlich aus anderen EU-Ländern ausreichend Asylexperten zur Verfügung zu stellen, fordert Katerina Kittidi. „Es muss sichergestellt werden, dass jeder Antrag individuell bearbeitet wird und dass es keine Art Rundum-Entscheidung gibt.“ Bisher seien viel zu wenig Asylfachleute vor Ort – das bestätigte auch ein Mitarbeiter der griechischen Küstenwache auf Chios der Deutschen Presse-Agentur am Montag.

Die korrekte und zügige Bearbeitung der Asylanträge jedoch ist der nächste, wenn nicht sogar der entscheidende Knackpunkt des ganzen Flüchtlingspakts. Denn selbst bei einem „Schnellverfahren“ muss mit bis zu vier Wochen Bearbeitungszeit gerechnet werden. Schon bald könnte es deshalb niemanden mehr geben, der zurückgeschickt werden kann, weil die Anträge noch nicht fertig bearbeitet wurden.

Hinzu kommt, dass die Flüchtlinge derweil interniert bleiben sollen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk sieht aber die Zustände etwa im „Hotspot“ von Lesbos äußerst kritisch. „Hier leben 2800 Menschen, obwohl das Lager nur für 2000 ausgelegt ist, und täglich kommen weitere hinzu“, sagt Boris Cheshirkov, UNHCR-Sprecher vor Ort. Man arbeite bereits mit den griechischen Behörden an Alternativen zur Internierung – nicht zuletzt, weil auch griechische Gesetze es nicht zulassen, die Menschen unbegrenzt festzuhalten.

„Eigentlich dürfte diese Inhaftierung nur eine allerletzte Maßnahme sein“, sagt Cheshirkov. „Die meisten hier im Lager sind Kriegsflüchtlinge, viele Frauen, Kleinkinder, Schwangere, aber auch verletzte und traumatisierte Menschen, sogar Folteropfer. Diese Menschen brauchen besonderen Schutz statt eingesperrt zu werden.“

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