Flüchtlingslager von Calais Nach der Räumung folgt die Ungewissheit

Der erste Tag der Räumung des „Dschungels von Calais“: In Reih und Glied stellen sich die Bewohner auf, um sich registrieren zu lassen. Zuversichtlich sind aber nur wenige. Die Odyssee der Migranten geht nun weiter.

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Quelle: dpa

Calais „À gauche, à gauche!“, rufen die Polizisten in die Menge. Doch die Flüchtlinge verstehen kein Französisch und gehen nicht nach links, wie es die Ordnungshüter möchten. Vor dem Tor des notdürftig hergerichteten Transitzentrums am tristen Stadtrand von Calais drängeln sich die Menschen.

Einige von eine schreien, Koffer zerbersten, eine Gitarre geht zu Bruch. Die Beamten stemmen sich mit aller Kraft gegen die Absperrgitter, um ein Chaos zu verhindern.

Am Tag Eins der Räumung von Frankreichs größter Barackensiedlung, dem „Dschungel von Calais“, ist die Aufregung groß. Seit Wochen wird über die Räumung gesprochen, die Behörden bereiteten sie minutiös vor.

Die Halle, wo die Flüchtlinge aus Äthiopien, Eritrea, Afghanistan oder dem Sudan registriert werden, öffnet pünktlich wie eine Amtsstube um 8.00 Uhr morgens. Die Bewohner des Elendslagers haben die Wahl zwischen Regionen in Frankreich. Dabei sind die Bretagne, die Normandie oder das Burgund. 450 Aufnahmezentren gibt es im ganzen Land.

Dolmetscher helfen bei der notdürftigen Orientierung. Ein Mann aus dem afghanischen Kabul hat den Osten des Landes erwischt. „Sehr viel Auswahl gab es nicht“, berichtet er. Eigentlich wollte er in den Süden, nach Marseille.

In Zelten, die in der kalten Betonhalle aufgeschlagen sind, sammeln sich die Gruppen. Wenn 50 Menschen zusammen sind, werden sie in Busse gebracht, die vor dem Gebäude warten. „Im Fahrzeug ist keine Polizei“, versichert eine Mitarbeiterin der Präfektur Pas-de-Calais. Auch beim Transport läuft alles wie am Schnürchen. Alle 15 Minuten verlässt ein Bus den Parkplatz und fährt durch das unwirtliche Industriegebiet mit Chemiefabriken in Richtung Autobahn.


Was kommt nach der Räumung?

Cherif Abdallah aus dem Sudan sitzt schon seit Tagen auf gepackten Koffern. Er will das überfüllte Lager mit seinen schlammigen Wegen unbedingt verlassen und sieht dessen Auflösung als den richtigen Weg. Einen Asylantrag hat er bereits gestellt – anderes als viele andere Flüchtlinge, die illegal in die nordfranzösische Hafenstadt gelangten. „Ich will Französisch lernen“, sagt der Mann mit roten Wollmütze lachend.

Andere sind weniger zuversichtlich und geben den Traum, doch noch ins gelobte Land Großbritannien zu gelangen, nicht auf. Unter ihnen sind zahlreiche Jugendliche. Einige von ihnen beobachten die abfahrenden Busse. „Wir bleiben“, sagt einer von ihnen.

Calais Bürgermeisterin Natacha Bouchart ist zwar erleichtert - aber gleichzeitig besorgt, dass neue Camps in der Stadt oder in der Umgebung entstehen könnten. Im „Dschungel“ seien immer noch viele politische Aktivisten der „No-Border“-Bewegung und Schleuser, berichtet sie. Nachts kommt es am Rande des Lagers mit zuletzt 6500 Bewohnern immer wieder zu Ausschreitungen, bei denen die Polizei auch Tränengas einsetzt.

Was kommt nach der spektakulären und lange erwarteten Aktion? So lautet die Frage im Rathaus. Kommunalpolitikerin Bouchart hat dafür sogar einen neuen Begriff geprägt – das „Après-démantèlement“. Auf Deutsch: Nach-Räumung. Die Skepsis unter den Bewohnern ist groß. Die Stadt hat nicht erst seit vergangenem Jahr, sondern schon seit 20 Jahren ein Flüchtlingsproblem.

Die Behörden reagieren eher diskret auf die Frage, was aus den Lagerbewohnern werden soll, die sich nicht in Busse setzen wollen. „Das wird man im Laufe der Zeit sehen“, meint der Sprecher des französischen Innenministeriums, Pierre-Henri Brandet.

Die gemeinsam mit Hilfsorganisationen geleistete Überzeugungsarbeit werde auf jeden Fall fortgesetzt. Sicherheitsexperten meinen, dass die „Phase der Freiwilligkeit“ nach zwei bis drei Tagen enden dürfte. Dann setze Phase Zwei der beispiellosen Aktion ein – die noch schwieriger werden dürfte.


Fragen und Antworten zur Massenräumung

Warum wird gerade jetzt das Ende des Elendslagers eingeläutet?
Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Die Regierung will vor dem Wintereinbruch handeln, um ein humanitäres Fiasko in dem überfüllten Lager zu verhindern. Die Menschen werden in Aufnahmezentren in ganz Frankreich verteilt - und dort unter besseren Bedingungen leben. Wer einen Asylantrag stellt, soll menschenwürdig untergebracht werden. Wer kein Recht auf Asyl hat, soll ausgewiesen werden - so lautet die Linie der Regierung. Innenminister Bernard Cazeneuve zog am Montag eine positive Zwischenbilanz der Aktion: „Wir möchten, dass sie ruhig und beherrscht abläuft. Das ist im Augenblick der Fall.“

Welche Rolle spielt die Flüchtlingskrise in Frankreich?
Das Land ist deutlich weniger von der Flüchtlingssituation betroffen als beispielsweise Deutschland. Frankreich registrierte im vergangenen Jahr gut 80.000 Asylanträge. Deutschland dagegen nahm knapp 477.000 Anträge an - fast das Sechsfache.

Wie nimmt die Bevölkerung von Calais die Flüchtlingskrise wahr?
Geschäftsleute klagen über Umsatzeinbrüche, Lastwagenfahrer fürchten Straßenblockaden durch Migranten. Tag für Tag sind Hunderte Polizisten im Einsatz, am Rande des „Dschungel“ kommt es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Migranten und Ordnungshütern. Entlang des Fährhafens und der Zugstrecken nach Großbritannien ziehen sich kilometerlange Zäune hin. Kriminalität ist auch ein Thema: Erst vergangene Woche gab es Berichte, wonach die Dolmetscherin eines TV-Teams in der Umgebung des Lagers vergewaltigt wurde.

Spielt die „große Politik“ auch eine Rolle?
Sechs Monate vor der Präsidentschaftswahl ist Calais natürlich ein Thema. Staatschef François Hollande, der erneut antreten dürfte, warnte bereits davor, aus dem Flüchtlingsdrama in Calais politisch Kapital zu schlagen. Konservative Oppositionspolitiker hatten bereits vor vielen „Mini-Calais“ in ganz Frankreich gewarnt. Altpräsident Nicolas Sarkozy von den konservativen Republikanern trat bereits in der Hafenstadt auf. Und die Rechtspopulisten von der Front National nutzen jede Gelegenheit und damit auch die Lage in Calais, ihre pauschale Einwanderungskritik zu äußern.

Sarkozy kennt die Lage gut, warum?
2002 ließ Sarkozy, damals noch Innenminister, das Rot-Kreuz-Lager von Sangatte bei Calais schließen. Es war ursprünglich für 200 Menschen vorgesehen, nahm zeitweise aber achtmal so viele Migranten auf. An der Küste entstanden immer wieder provisorische Lagerplätze in leerstehenden Gebäuden oder in der freien Natur.

Das Problem von Calais ist also nicht neu?
Schon seit Jahren sammeln sich dort Migranten, die illegal auf die andere Seite des Ärmelkanals, nach Großbritannien, gelangen wollen. Nach Dover sind es nur rund 40 Kilometer, die engste Stelle des Kanals liegt nur ein paar Kilometer von Calais entfernt. Im Zuge der internationalen Flüchtlingskrise spitzte sich die Situation zu. Seit dem Frühjahr 2015 entstand auf einem Brachland ein Lager aus Zelten, Hütten und inzwischen auch vom Staat finanzierten Wohn-Containern. In diesen Behelfsbauten können rund 1500 Menschen untergebracht werden.

Wieviele Menschen leben in dem Lager?
Obwohl die Behörden einen Teil des Geländes im März räumten, lebten dort bis zur Beginn der Räumung etwa 6500 Menschen. Diese Zahl wird in einem aktuellen Urteil des Verwaltungsgerichts von Lille genannt, das die Räumung grundsätzlich billigte. Hilfsorganisationen sprachen hingegen im Sommer von mehr als 10.000 Migranten.

Welche Rolle spielen unbegleitete Kinder und Jugendliche?
In dem Lager leben etwa 1300 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Etwa 500 von ihnen sollen Familienangehörige in Großbritannien haben. Etwa 200 Minderjährige gelangten allein in der vergangenen Woche im Rahmen der Kooperation Paris-London auf die Insel.

Wie ist der Grenzschutz zwischen Frankreich und Großbritannien geregelt?
Die britische Grenze wird faktisch in Nordfrankreich bewacht. In Calais verhindern französische Polizisten Tag für Tag, dass Migranten auf Lastwagen mit Ziel Großbritannien klettern. Grundlage ist ein Vertrag, den die Regierungen aus Paris und London 2003 im Seebad Le Touquet vereinbarten. Demnach werden Pässe bereits im Hafen von Calais kontrolliert, von britischen Beamten. Wer nicht ins Land darf, muss in Frankreich bleiben - und fliegt nicht erst bei der Ankunft in Dover auf. Umgekehrt kontrollieren französische Beamte schon auf britischem Boden, ob Reisende in den Schengen-Raum dürfen. An dem Touquet-Vertrag gibt es in Frankreich immer wieder Kritik.

Baut London eine Mauer?
Die von Großbritannien finanzierte Mauer entlang des Hafenzubringers von Calais soll einen Kilometer lang werden. Die Kosten werden mit rund 2,4 Millionen Euro veranschlagt.

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