Frankreich nach dem Brüssel-Terror Déja-vu für Paris

Nach den Anschlägen in Brüssel zeigen sich viele Bürger von Paris solidarisch. Doch zur Schweigeminute vor das Rathaus kommen nur wenige hundert. Abgestumpft sind die Pariser nicht. Die Zurückhaltung hat andere Ursachen.

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In Paris legten viele Bürger Flaggen, Blumen und Kerzen am Platz der Republik nieder. Quelle: dpa

Paris Mit einer Schweigeminute und stillem Protest vor dem Rathaus nehmen viele Pariser Anteil an der Trauer um die Opfer der Terroranschläge in Brüssel. Einige halten selbstgemachte Schilder hoch mit der Aufschrift „Je suis Bruxelles“. Doch insgesamt kommen nur wenige Hundert zusammen, eine völlig andere Größenordnung als nach dem Mordanschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo vor mehr als einem Jahr oder den Anschlägen vom November 2015.

Sind die Pariser abgestumpft? Nein, bestimmt nicht. Die Emotionen sind noch stark und frisch. Ein Beispiel: Innerhalb weniger Minuten war das Konzert ausverkauft, dass die Eagles of Death Metal Mitte Februar im Pariser Olympia gegeben haben. Sie standen auf der Bühne, als drei Terroristen am 13. November vergangenen Jahres mit automatischen Waffen den Bataclan-Klub stürmten und dort 90 Menschen erschossen.

Aber zugleich setzt eine Reaktion ein, ohne die man vielleicht nicht weiterleben kann: Das Gefühl macht sich breit, dass weitere Anschläge nicht zu verhindern sein werden, dass in einigen Monaten oder Wochen vielleicht wieder für französische Opfer Kerzen angezündet, Blumen niedergelegt und Erinnerungsfotos mit einem letzten Gruß beschriftet werden. Das Leben muss trotzdem weitergehen. In einer Mischung aus Realismus und Schicksalsergebenheit nehmen die Franzosen an, dass es noch lange dauern wird, bis diese Welle von Anschlägen endet. Es ist nicht die erste, die sie durchstehen müssen. Bereits 1995 gab es eine Reihe von Attentaten, damals wurden Bomben in Nahverkehrszügen gezündet und verursachten zahlreiche Tote.

Die politische Reaktion auf die Anschläge in Brüssel hat nicht lange auf sich warten lassen, und leider ist sie einmal mehr eher emotional als rational: Abgeordnete der Rechten verlangen eine Gesetzesänderung, die einen tatsächliche lebenslange Freiheitsstrafe ermöglichen soll. Heute können zu „lebenslänglich“ verurteilte Straftäter spätestens nach 30 Jahren ihre Freilassung beantragen.

Premier Manuel Valls hat sich dazu bereit erklärt, die Inhaftierung bis zum Tod im Parlament zu behandeln. Zu Recht weist der Vorsitzende der sozialistischen Fraktion Bruno Leroux auf die Gegenargumente hin: „Aufgepasst, diese langsame Todesstrafe würde Frankreich in Konflikt zur europäischen Gesetzgebung bringen.“ Abgesehen davon muss man sich fragen, welche Abschreckungswirkung eine solche Strafe auf Täter haben soll, die sogar dazu bereit sind, sich mit einer Nagelbombe um den Bauch in die Luft zu sprengen.

Kritik an der belgischen Regierung, wie sie Finanzminister Michel Sapin noch am Abend der Attentate vom 22. März geübt hat, kommt nicht gut an. Sapins Äußerungen gelten als taktlos und deplatziert. Allerdings erwecken die französischen Medien den Eindruck, Brüssel sei die Hauptstadt des europäischen Terrorismus. Die eigenen Zentren des Dschihadismus in der Banlieue von Paris oder Toulouse oder in manchen Gefängnissen werden in dem Falle ausgeblendet.

Frankreichs Präsident und der Premier, François Hollande und Manuel Valls, warten mit widersprüchlichen Botschaften auf. Einerseits warnen sie vor der Möglichkeit neuer Anschläge, weil Frankreich „im Krieg gegen den Terror“ stehe und dieser Orlog lange dauern werde. Beide, vor allem Valls, überdrehen tendenziell mit ihren Warnungen: Der Premier hat sogar schon die Möglichkeit von Anschlägen mit chemischen und biologischen Waffen angeführt, Experten halten das für ausgeschlossen, weil für Leute ohne lange militärische Ausbildung diese Art von Waffen viel zu schwierig zu handhaben sei.

Notwendig sind diese Warnungen außerdem nicht: Die Franzosen haben längst ein realistisches Bild der Lage. Deshalb sind sie auch nicht besonders beeindruckt, wenn der Innenminister Bernard Cazeneuve wie am Dienstag verspricht, sofort weitere 600 Polizisten und Militärs zu mobilisieren, um die Bürger zu schützen.

Jeder Einwohner von Paris, Marseille oder Lyon weiß, dass dieses Versprechen nicht eingelöst werden kann: Nur in einem winzigen Bruchteil der Metro-Züge können die jungen Fallschirmjäger mit ihren Splitterwesten Streife gehen. Und in keinem der Hochgeschwindigkeitszüge TGV wird das Gepäck kontrolliert, bevor er den Bahnhof verlässt.


Mantel auf, Tasche zeigen

Bis zu einem gewissen Maß haben die Franzosen sich ein Leben mit dem Risiko angewöhnt, so wie sie sich an die Eingangskontrollen an den großen Geschäften oder Bürogebäuden in Paris gewöhnt haben: Mantel auf, Tasche zeigen. Im Widerspruch zu den stets erneuten Warnungen der Politik vor möglichen Anschlägen steht die Entschlossenheit der Regierung, die Fußball-Europameisterschaft vom 10. Juni bis zum 10. Juli auszutragen.

„Die EM und die Tour de France werden stattfinden“, sagte er am Mittwoch in einem Radiointerview. Die großen Sport- und Kulturveranstaltungen seien notwendig, „um zu zeigen, dass wir ein freies Volk sind, aufrecht stehend, dass wir keine Angst haben.“

Logischerweise müsste bis dahin der Ausnahmezustand beendet werden, der große Versammlungen unter freiem Himmel unterbindet. Darauf will Valls sich allerdings nicht festlegen. Schon zwei Mal ist der Ausnahmezustand verlängert worden, der den Sicherheitskräften einen weit größeren Handlungsspielraum gibt und Durchsuchungen ohne richterlichen Beschluss oder Hausarrest ermöglicht.

Die große Mehrheit der Franzosen stört sich nicht daran: Sie sehen den „état d’urgence“ wohl als eines der wenigen Mittel an, ihre Sicherheit etwas zu verbessern – selbst wenn er bislang nicht zur Festnahme von potenziellen Terroristen geführt hat.

Kritik an der Regierung kommt derzeit vor allem von den drei Organisationen der Terroropfer und der Hinterbliebenen. Sie beklagen sich über mangelnde Unterstützung seitens der Exekutive. Und sie verlangen mehr Aufklärung über das, was am 13. November wirklich geschehen ist und wie die Sicherheitskräfte gehandelt haben. Mehr als zwei Stunden vergingen zwischen dem Angriff der Terroristen auf das Bataclan und dem Sturm durch ein Sondereinsatzkommando.

Die Sicherheitskräfte begründen das mit dem Hinweis auf die unübersichtliche Lage, die menschlichen Schutzschilde, die sie am Eingang postiert hatten und damit, dass sie auch auf Personen außerhalb des Gebäudes schossen. Doch die Kritiker überzeugt das nicht.

Andere Hinterbliebene fragen hartnäckig nach, warum die Geheimdienste und die Justiz bestimmten Spuren nicht viel früher nachgegangen seien. Im Februar 2009 wurde eine junge Französin bei einem Anschlag in Kairo getötet.

Es wurde deutlich, dass dies kein Zufall war, sondern gezielt eine französische Gruppe angegriffen wurde. Beteiligt waren einige Personen, deren Namen auch wieder im Zusammenhang mit den Anschlägen des 13. November auftauchten. Schlimmer: Bei den Vernehmungen 2009 gab es Hinweise auf die Planung eines Anschlages im Bataclan. Die Justiz ging denen aber nicht weiter nach.

Offene Kritik an den Diensten und an der Justiz ist aber ein Minderheitenphänomen. Die Mehrheit der Franzosen ist mit ihrer Arbeit einverstanden – selbst wenn sie gleichzeitig glauben, dass es weitere Anschläge geben wird: ein Paradox in Zeiten des Terrorismus.

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