Freytags-Frage

Soll die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbrechen?

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Die Verhandlungen abzubrechen wäre grundfalsch

-Zur Integration in der EU gehört auch, dass die Menschen wandern und sich in ihren neuen Wohnorten an die Gegebenheiten anpassen. Der türkische Präsident aber hat bereits 2008 die Assimilation als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet, als ob es möglich ist, sich in ein fremdes Land zu integrieren, ohne die dortigen Gepflogenheiten anzuerkennen und zumindest zum Teil nach ihnen zu leben.

-Schließlich die Menschenrechte: Krieg gegen eine Minderheit im eigenen Land ist mit den europäischen Werten unvereinbar; sofern die Türkei ihr Kurdenproblem nicht in friedlicher Form löst, kann man sich eine Mitgliedschaft schon deshalb nicht vorstellen. Auch die angedrohte Wiedereinführung der Todesstrafe führt die Verhandlungen ad absurdum.

Insofern kann als Zwischenfazit gelten: Die Türkei gehört nicht zur EU. Sie scheint in der „Middle Income Trap“, von der in letzter Zeit so häufig die Rede ist, gefangen zu sein: Ein halbwegs demokratischer Staat holt auf und verzeichnet hohe Wachstumsraten etwa bis zu dem Punkt, an dem es zu den reichen Ländern aufschließen kann. Dazu benötigt es dann aber die angemessenen Institutionen, insbesondere freie Märkte, Abwesenheit der Korruption, Durchsetzung der Eigentumsrechte, eine durchsetzbare Rechtsordnung und eine den Gesetzen unterworfene Regierung. Diese Institutionen sind offenbar im Jahre 2016 zum größten Teil in der Türkei nicht vorhanden.

Soll die europäische Seite deshalb aber die Verhandlungen abbrechen, wie es die österreichische Regierung fordert? Das wäre grundfalsch. Denn es ist nicht auszuschließen, dass die Absichtserklärung der türkischen Regierung, bis 2023 Mitglied der EU zu werden, gerade darauf setzt, der EU den schwarzen Peter für den möglichen Abbruch der Verhandlungen in die Schuhe zu schieben. Im Moment sucht die Regierung in Ankara ja für alle Probleme im Inland ausländische, bevorzugt westliche Schuldige. Diese Möglichkeit sollte die EU ihr mit Blick auf die Beitrittsverhandlungen nicht geben.

Außerdem dürfte für viele Menschen in der Türkei die europäische Integration und die mit der Mitgliedschaft in der EU verbundenen Rechte eine hohe Strahlkraft und Motivation besitzen, sich für eine Verbesserung der türkischen Institutionen, also die Überwindung der „Middle Income Trap“ einzusetzen. Die EU sollte vor diesem Hintergrund gerade viel daran setzen, die Verhandlungen fortzuführen, ohne die im Acquis definierten Ansprüche zu reduzieren. Nur hält man den Druck auf die türkische Regierung hoch, zu rechtsstaatlichem Verhalten zurückzukehren.

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