Freytags-Frage
Ein zerstörtes Haus in Odessa, Ukraine. Quelle: imago images

Wie soll der ukrainische Wiederaufbau nach dem Ende des Krieges organisiert werden?

Ein Jahr nach Anfang des Krieges in der Ukraine ist das Ende noch nicht in Sicht. Trotzdem ist klar, dass Kiew die Hilfe des Westens beim Wiederaufbau brauchen wird. Eine Kolumne.

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An diesem Freitag jährt sich der Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine. Ein Ende des mörderischen Krieges ist nicht abzusehen, dennoch ergibt es Sinn, wenn die politischen Entscheidungsträger in der Ukraine sowie den Partnerländern sich Gedanken über die Nachkriegsordnung machen. Voraussetzung dieser Überlegungen ist ein Scheitern des russischen Krieges in dem Sinne, dass die Ukraine bestehen bleibt und die russischen Aggressoren dauerhaft von weiteren Angriffen abgehalten werden können.

Trotz vieler Bedenken ist im vergangenen Jahr deutlich geworden, dass sich die Ukraine als Teil der europäischen aufgeklärten Gemeinschaft versteht und als solche zu behandeln ist. Es ist überaus unwahrscheinlich, dass die Ukrainer ihren Freiheitswillen und das moderne Selbstverständnis nach Kriegsende aufgeben werden. Ob dies gleich bedeutet, dass die Ukraine ein Mitglied der Europäischen Union (EU) werden wird, ist dabei offen. Die Einhaltung der Kopenhagener Kriterien ist zentral für den Beitritt jeden Landes. Die Ukraine dürfte davon noch recht weit entfernt zu sein – man denke nur an die hohe Korruption, wie sie der Corruption Perception Index (CPI) von Transparency International (TI) ausweist, auch wenn diese sicherlich abgebaut werden wird. Auch andere Anforderungen dürften noch schwer erfüllbar sein.

Dessen ungeachtet wird die EU gemeinsam mit anderen Partnern, darunter Kanada und die Vereinigten Staaten, mit Sicherheit große Anstrengungen unternehmen, die Ukraine beim Wiederaufbau nach Ende des Krieges zu unterstützen. Zu viel steht auf dem Spiel. Wenn es gelingt, die Ukraine zu stabilisieren, die Demokratie zu festigen und die Grundlagen für eine dauerhaft positive wirtschaftliche Entwicklung zu legen, ist dies ein ernsthaftes Signal an die Welt, dass das westliche Gesellschaftsmodell trägt. Es zeigt auch, dass Aggressoren wie Präsident Putin langfristig im Hintertreffen sind.

Der Wiederaufbau der Ukraine braucht ein institutionelles Gerüst. Historisches Vorbild könnte die Behörde sein, die den Marshallplan umsetzte.

Dabei ist der Vorschlag des Bundeskanzlers und der Präsidentin der Europäischen Kommission, einen Marshall-Plan durchzuführen, im Grundsatz zu befürworten. Denn dieses Konzept setzt nicht ausschließlich auf Geldströme, sondern zuvorderst auf institutionelle Reformen zu Verbesserung der Regierungsführung auf nachhaltige Weise.

Zur Erinnerung: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren große Teil der europäischen physischen Infrastruktur zerstört. Es ging den ehemaligen Kriegsparteien mit Ausnahme der USA wirtschaftlich und humanitär gleichermaßen schlecht. Außerdem war bereits abzusehen, dass die Alliierten sehr unterschiedliche Interessen verfolgten. Mit anderen Worten: Der kalte Krieg kündigte sich bereits an, die deutsche Teilung wurde immer realistischer.



Europäischer Wiederaufbau: Der Marshall-Plan

In dieser Phase übernahmen die USA Verantwortung in dem Sinne, dass sie den europäischen Kriegsparteien, darunter auch Westdeutschland und den mitteleuropäischen Staaten, die aber allesamt absagten, den als Marshall-Plan bekannten Plan eines europäischen Wiederaufbauplans (European Recovery Program, ERP) vorschlugen. Ab 1948 wurden rund 13 Milliarden US-Dollar – deren Kaufkraft heute bei über 150 Milliarden US-Dollar liegt – zum Teil als Transfer und zum Teil als Kredit an die Europäer ausgezahlt. Die Bundesrepublik erhielt etwa 1,2 Milliarden US-Dollar. Dieses Geld war später – nach Ende des ERP 1952 – das Startkapital für die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Das heißt, die deutsche Regierung vergab das Geld als Kredite, die immer wieder zurückgezahlt wurden und so Einkommen für die KfW generierten.

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Die finanziellen Zuwendungen waren aber nur ein Teil der US-amerikanischen Unterstützung. Wichtiger noch scheinen die institutionellen Anforderungen gewesen zu sein. Durch den Marshall-Plan wurden institutionelle Reformen in den europäischen Ländern gefördert – nicht zuletzt die deutsche Währungsreform am 20. Juni 1948 ist ein Beispiel dafür. Zweitens waren Frankreich und Großbritannien bereit, die Deutschen in Europa wirtschaftlich und politisch zu integrieren, was sicherlich keine Selbstverständlichkeit war. Drittens schließlich war das ERP das Signal, dass die USA sich langfristig diesseits des Atlantiks engagieren wollten.

Ein ähnliches Ergebnis, nämlich institutionelle Reformen und ein langfristiges gemeinsames Engagement der transatlantischen Partner mit der Ukraine, könnte eine angepasste und maßgeschneiderte Neuauflage des Marshall-Planes nach Kriegsende bewirken. Man könnte sogar darüber nachdenken, die Nachbarländer der Ukraine, insbesondere Moldawien und Georgien, die vor ähnlichen Problemen im russischen Umgang mit ihnen stehen, einbezogen werden. Selbst ein Angebot an Weißrussland muss man nicht von vornherein ausschließen. In der ganz langen Frist wäre sogar zu überlegen, Russland in eine mithilfe eines Wiederaufbauplans vorangetriebene europäische Nachkriegsordnung einzubeziehen. Die letzten beiden Überlegungen sind zurzeit eher theoretischer Natur, sollten aber nicht ausgeschlossen werden.

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Anders als 1947/1948 gibt es heute mehr als einen potentiellen Geber und weniger Nehmerstaaten. Das bedeutet auch mehr diplomatische Herausforderungen mit Blick auf die Aufteilung der finanziellen Lasten der Partnerländer und der institutionellen Reformen. Das Projekt wird nur dann ein Erfolg sein, wenn es auf breiter Zustimmung der europäischen Partner und der USA basiert. Insofern würde vermutlich vor allem der Name eines Marshall-Plans für die Ukraine an die europäische Nachkriegsgeschichte erinnern. Die Details eines solchen Planes würden ganz anders aussehen. Angesichts der Symbolkraft und positiven kollektiven Erinnerung an das ERP sollten die europäischen Entscheidungsträger die Idee aber auf jeden Fall aufgreifen. Denn es ist klar, dass die Ukraine auch nach dem Ende des Krieges die Unterstützung des Westens braucht. Aus der Vergangenheit zu lernen, macht auf jeden Fall Sinn.

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