Fukushima – eine Bestandsaufnahme Japans unbewältigte Katastrophe

Vor sechs Jahren lösten ein Erdbeben und ein Tsunami in Japan eine Atomkatastrophe aus. Die Regierung will den Bewohnern eine Wiederbelebung der Atomkraft verkaufen. Doch die Japaner wehren sich – mit stillem Widerstand.

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Der Kraftwerksbetreiber, der Tokioter Stromversorger Tepco, hält dennoch an seinen Plänen fest, 2021 mit dem Abbau des geschmolzenen Brennstoffs zu beginnen. Quelle: Reuters

Tokio Masahiro Imamura hat einen undankbaren Job. Als Minister für Wiederaufbau ist er dafür zuständig, die Japaner von der Überwindung der Atomkatastrophe zu überzeugen, die genau vor sechs Jahren mit einem Megaerdbeben und einem Riesentsunami ihren Anfang nahm. Doch schon das Ausmaß der damaligen Katastrophe macht klar, wie groß seine Herausforderung ist.

Am 11. März 2011 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 9 auf der Richterskala den Inselstaat. Eine riesige Wasserwand rauschte danach auf Japans Nordosten zu, zerstörte auf 350 Kilometern Küste Ortschaften und riss 15.000 Menschen in den Tod. Auch beim Atomkraftwerk Fukushima 1 mehr als 200 Kilometer nördlich von Tokio überspülten die Fluten eine hohe Schutzmauer und zertrümmerten Rohre, Gebäude und die Stromversorgung.

In drei der sechs Meiler schmolzen die Kerne, Wasserstoffexplosionen zerstörten Reaktorgebäude. Eine radioaktive Wolke zog erst nordwestlich über die Präfektur Fukushima, um dann nach Süden abzubiegen. Selbst im Nordosten Tokios gab es Hotspots mit erhöhter Strahlung. Mehr als 100.000 Menschen wurden evakuiert, allein in Fukushima. Doch Iwamura stellt sich hin und verkauft die Rückkehr der Normalität, besonders in Fukushima.

Er zeigt Fotos aus dem Atomkraftwerk von Arbeitern, die ohne Schutzanzüge herumlaufen. Zudem will er – wie er selbst sagt – Vorurteile gegen die Region bekämpfen. Die Delikatessen der Region, Reis, Gemüse und Pfirsiche würden getestet und seien sicher – und das Leben erst recht.

„In 95 Prozent der Präfektur Fukushimas sind die Strahlendosen nicht sehr verschieden von denen in Städten anderswo auf der Welt,“ sagt er. Selbst in der Nähe der Meiler seien sie vielerorts stark gefallen. Viele Ortschaften wurden bereits wieder zur Besiedlung freigegeben, so Imamura. „Wir arbeiten daraufhin, die Evakuierungsbefehle für die meisten Gebiete bis zum nächsten Frühjahr aufzugeben“ – außer einigen Zonen mit zu hoher Strahlung.

Doch Imamuras Werbefeldzug stößt auf ein schwerwiegendes Problem: Die Japaner leisten einen stillen Widerstand gegen die Bemühungen der Regierung, die Folgen des Atomunfalls kleinzureden und die Atomkraft als Energieträger zu rehabilitieren. Und damit wachsen die Zweifel an der Energiestrategie der Regierung, auf der Japan international seine Klimaschutzziele aufgebaut hat.

Japans Regierungschef Shinzo Abe will den Anteil an Atomstrom von derzeit einem auf 22 Prozent hochfahren. Doch ausgerechnet einer der Architekten seiner Energiestrategie fährt ihm in die Parade. „Das Ziel ist recht unrealistisch“, sagt der Energieexperte Takeo Kikkawa von der Wissenschaftsuniversität Tokio. 15 Prozent hält Kikkawa für möglich. Denn nicht nur die neuen Sicherheitsrichtlinien der Atomaufsicht stellen eine hohe Hürde für die Wiederinbetriebnahme von Reaktoren dar, sondern auch die öffentliche Meinung.

Zwar protestieren die Japaner nicht lautstark in Massen auf der Straße gegen die Atomkraft. Aber lokale Bürgerinitiativen führen harte juristische und politische Zermürbungskämpfe mit der Zentralregierung und der Atomlobby. Oder sie stimmen mit den Füßen ab – wie in Fukushima.


Von der Stärke des stillen Widerstands

Die meisten Evakuierten der offiziell noch 81.000 Strahlenflüchtlinge bleiben ihrer alten Heimat fern. Die Gemeinde Naraha 15 Kilometer südlich der Katastrophenmeiler heißt bereits seit September 2015 seine alten Bewohner willkommen. Doch nur zehn Prozent sind dem Ruf der Heimat gefolgt. In Minamisoma nördlich des Akws sind es seit der Öffnung im Juli 2016 nur 13,6 Prozent.

Doch auch Ortschaften leiden, die größtenteils außerhalb des ersten Sperrbezirks lagen, der in 20 Kilometer Umkreis um die Atomruinen geschlagen wurde. Die Gemeinden Kawauchi und Tamura im Westen der Evakuierungszone haben bis zu einem Drittel ihrer Bewohner eingebüßt. Nicht einmal mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche schafft die Regierung, den Betroffenen die Rückkehr schmackhaft zu machen.

Auf der einen Seite werden die Wohngegenden und Felder mit großem Aufwand entseucht, um die Strahlung zu drücken. Zudem hat die Regierung die Initiative „Innovationsküste Fukushima“ gestartet. Vor Fukushima sollen schwimmende Windkraftanlagen Strom produzieren. Auf Land werden Forschungseinrichtungen angesiedelt, um neue Jobs zu schaffen.

Auf der anderen Seite wird vielen bedürftigen Strahlenflüchtlingen Ende März die kostenlose Wohnung gestrichen. „Dies trifft etwa 31.000 Personen“, erzählt Miyako Kumamoto vom Liaison-Komitee für die Organisationen der Opfer des nuklearen Desasters. Viele stünden damit vor der Wahl zwischen Rückkehr und Armut, so Kumamoto. „Und die meisten sind Mütter mit Kindern, die denken, dass ihre Heimat nicht sicher genug für eine Rückkehr ist.“

Betroffene zweifeln allerdings, dass die Regierung in den kommenden Jahren mehr Erfolg haben wird als bisher. Einer ist Hiromu Murata, ein Bauer aus den Bergen im Westen des Kreises Minamisoma. Der Küstenstreifen im Osten der Gemeinde bekam damals relativ wenig Strahlung ab. Schon kurz nach der Katastrophe spielten dort Jugendliche draußen wieder Baseball. Aber über Muratas Hof zog die Strahlenwolke hinweg. Er musste davonlaufen und ist bis heute nicht zurückgekehrt.

Stattdessen lebt er in der Millionenmetropole in Yokohama, von wo aus er 21 der 30 Sammelklagen von Betroffenen koordiniert. Nur ein Zehntel der noch nicht zurückgekehrten Bewohner der Ortschaft Naraha würden die Heimkehr erwägen, erzählt er. „Und bei Familien mit Kindern ist der Anteil noch niedriger.“ Er befürchtet daher, dass die Ortschaften nur von Senioren bewohnt werden. Zukunft sieht anders aus. „Es ist ein Teufelskreis“, sagt er traurig.

Ein Grund für das Zögern ist die Angst vor der Strahlung. Eine Umfrage in Fukushima ergab, dass 63 Prozent der Bewohner der Präfektur Strahlenfolgen befürchten. Unter den Evakuierten ist der Anteil möglicherweise noch höher, meint Murata. Selbst wenn in den Ebenen die Erde von Feldern und Gärten ausgetauscht wurde, ist die Umgebung wenig einladend.

Außerhalb der Ortschaften lagert der strahlende Abraum in Säcken auf riesigen Halden. Und in den Bergen sei die Strahlung weiterhin hoch, berichtet Murata. Wind und Regen tragen daher strahlendes Material immer wieder hinab in die Täler und Ebenen. „Landwirtschaft ist daher auf meinem Hof nicht möglich“, glaubt er.


Die Sorge um die Atomruinen

Ein weiterer Grund zur Sorge ist die Lage im Atomkraftwerk. Japans Ministerpräsident Abe versprach bei der Bewerbung Tokios für die Olympiade 2020, dass die Lage „unter Kontrolle“ sei. „Doch zu uns in Japan hat er das nie gesagt“, meint Mitsuhiko Tanaka, ein ehemaliger Reaktordesigner des Technikkonzerns Hitachi, der in einem Parlamentsausschuss die Havarie mituntersucht hat.

Für Tanaka ist dies kein Wunder. „Ich denke nicht, dass unter Experten viele sagen würden, dass die Lage unter Kontrolle sei.“ Unbestritten gibt es Fortschritte. Und eine neue, weiträumige Verstrahlung scheint vermeidbar. Aber dies ist eher eine Stabilisierung der Krise. Denn bis heute ist unklar, wie die Dekommissionierung der Ruinen genau stattfinden soll. Stattdessen türmen sich die unbeantworteten Fragen.

Die Experten wissen noch nicht hundertprozentig, ob schon das Erdbeben oder erst der Tsunami die Kernschmelzen ausgelöst hat – und wie genau die Unfälle abliefen. Auch der Verbleib der geschmolzenen Brennstäbe ist unklar – und wird es erstmal bleiben. Vorigen Monat schlug ein erster Vorstoß von Robotern ins Innere von Reaktor 2 fehl. Erst gab wegen der hohen Strahlung die Kamera auf, dann blieb der Roboter stecken. Denn die erstmals im Reaktorinneren gemessene Strahlung wurde auf mehr als 600 Sievert geschätzt, genug um einen Menschen innerhalb einer Minute zu töten.

Der Kraftwerksbetreiber, der Tokioter Stromversorger Tepco, hält dennoch an seinen Plänen fest, 2021 mit dem Abbau des geschmolzenen Brennstoffs zu beginnen. Greenpeace kritisiert diesen Plan allerdings als unrealistisch. Sogar der Chef der Atomaufsichtsbehörde Shunichi Tanaka äußert sich vorsichtig: Es sei zu früh für Optimismus, so der Oberaufseher. „Im Moment stochern wir noch im Dunklen herum.“

Damit verstärkt sich eines der größten Probleme: die Lagerung von verstrahltem Kühl- und Grundwasser. Denn bisher weiß niemand, was mit den schon mehr als 700.000 Tonnen Wasser geschehen soll. Ein Großteil wurde zwar von radioaktiven Isotopen gereinigt. Nur leider lässt sich das toxische Tritium nicht herausfiltern. Daher kann das Wasser nicht ohne weiteres in den Pazifik gepumpt werden.

Zu allem Überfluss wächst das Problem täglich. Zwar hat Tepco eine Schutzmauer aus Eis um das gesamte Areal in den Boden gefroren, um das Grundwasser an den Reaktoren vorbeizulenken. Doch an einige Stellen wird Wasser hereingelassen, damit der Grundwasserspiegel nicht rasant absinkt. Dies könnte neue Probleme verursachen.

Mit den Verzögerungen explodieren die Kosten. Derzeit kalkuliert die Regierung, dass die Sanierung der Ruinen, die Entschädigungen der Anwohner sowie die Dekontaminierung umgerechnet 178 Milliarden Euro kosten würden. Dies ist bereits doppelt so viel wie ursprünglich veranschlagt.


Die Angst Abes um die Atomindustrie

Die Entwicklungen in und um die Atomruinen bleiben auch in Japan nicht verborgen. Die Beschwichtigungen von Regierungschef Abe und seinem Team kann daher bisher das Vertrauen der Japaner in die Atomkraft nicht zurückgewinnen. Noch vor wenigen Monaten lehnten in einer Umfrage der Zeitung Asahi 57 Prozent den Neustart von Atomreaktoren ab.

Für Abe ist dies ein großes Problem. Denn der Regierungschef will die Atomkraft wiederbeleben. Mit 22 Prozent liegt das neue Ziel für den Atomstromanteil nur acht Prozentpunkte unter dem Wert von 2010. So will er die teuren Importe von Öl, Gas und Kohle für die fossilen Kraftwerke senken, die die große Atomstromlücke füllen müssen. Erst drei von ehemals 54 Meilern sind wieder am Netz.

Außerdem benötigen Japans drei Akw-Bauer Hitachi, Mitsubishi Heavy und vor allem Toshiba dringend neue Einnahmen. Denn ohne Aufträge für Wartung und Brennstoffe leiden die Kraftwerksparten. Toshiba wird zudem durch riesige Abschreibungen für seine amerikanische Akw-Sparte Westinghouse nahe an den Abgrund gedrängt. Die Lage ist so schlecht, dass die Unternehmen ihr Brennstoffgeschäft zusammenzulegen. Experten sehen darin den Beginn einer größeren Konsolidierung.

Doch Schlüsselprojekte stocken – wie der Neustart des einst größten Akws der Welt in der Präfektur Niigata nördlich von Tokio. Die sieben Meiler des Kraftwerks gehören dem Besitzer der Atomruinen, dem Tokioter Stromversorger Tepco. Der Sanierungsplan des Unternehmens beruht darauf, dass es wenigstens einige der Meiler wieder einschalten kann.

Allerdings kündigte der Gouverneur der Präfektur Niigata Ryuichi Yoneyama bereits an, die Genehmigung vorerst nicht zu erteilen. Schließlich gewann der ehemalige Anhänger von Atomkraft 2016 die Regionalwahl mit einem klaren Versprechen: Erst muss das Atomunglück lückenlos aufgeklärt werden, dann fällt die Entscheidung. Und das kann noch Jahre dauern.

Die Neustarts würden daher nur sehr langsam erfolgen, glaubt Energieexperte Kikkawa. Wenn Ende 2017 sechs Reaktoren am Netz sein sollten, wäre das Ministerium für Handel, Wirtschaft und Industrie schon sehr glücklich, unkt der Professor. Zudem müsste die Laufzeit vieler alter Reaktoren verlängert werden, um das amtliche Ziel zu erreichen. Wie die Regierung das fertigbringen will, ist bisher Abes Geheimnis.

Die Kritik an der Regierung wächst daher. Selbst die regierungs- und wirtschaftsnahe Wirtschaftszeitung Nikkei mahnte bereits eine Revision von Abes Energiestrategie an. Damit demonstriert Japan eines: Auch sechs Jahre nach dem Erdbeben ist die Atomkatastrophe noch nicht beendet – weder technisch noch politisch.

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