Fukushima – fünf Jahre danach So lebt es sich in einem verstrahlten Land

Naraha, das Örtchen südlich der Atomruinen in Fukushima, ist eine Geisterstadt. Zwar sinkt die Strahlung und evakuierte Gebiet werden wieder zur Besiedlung freigegeben. Doch Mediziner streiten über die Strahlenfolgen.

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Radioaktiver Müll: Naraha, die idyllische Küstengemeinde 15 Kilometer südlich der Meiler von Fukushima, gleicht einer Geisterstadt. Quelle: AP

Tokio Eigentlich könnte Naraha ein Zeichen der Hoffnung sein. Eigentlich. Die 8.000-Seelengemeinde gehört zu jenen Ortschaften, die die Anwohner vor fünf Jahren nach der Atomkatastrophe im Atomkraftwerk Fukushima 1 fluchtartig verlassen mussten. Und nun ist die Gemeinde unter jenen, in die die Menschen bereits seit Herbst 2015 zurückkehren dürfen. Denn die Strahlenwerte liegen dank Halbwertszeit und Dekontaminierung derzeit unter den Grenzwerten. Doch noch immer gleicht Naraha, die idyllische Küstengemeinde 15 Kilometer südlich der Meiler, einer Geisterstadt.

Bisher siedelten sich vor allem Bauarbeiter an, die entweder bei der Dekontaminierung der Region oder den Rettungsarbeiten im Akw helfen. Von der ursprünglichen Bevölkerung kehrten nur fünf Prozent zurück. Und die meisten sind alt oder Angestellte der Regierung. Familien mit Kindern bleiben weg, obwohl Regierung und viele Experten versichern, dass Strahlung nun mehr kein Problem sei.

Ruiko Muto, eine Mitorganisatorin der Evakuierteninitiative Hidanren, nennt einen Grund für das Zögern. Der Medizinerstreit über die gesundheitlichen Folgen auch niedrigdosierter Strahlung halte die Menschen zurück. „Es gibt so viele Ansichten dazu, welche Werte sicher sind. Aber wir kennen die Auswirkungen der Strahlung noch nicht,“ erklärt sie.

Bisher ist nur ein Krebsfall eines Arbeiters im Atomkraftwerk amtlich als Strahlenfolge anerkannt worden. Einige Experten halten Werte von einem bis zehn Millisievert pro Jahr statistisch unbedenklich. Andere wie der japanische Epidemologe Toshihide Tsuda von der Universität von Okayama warnen allerdings, dass man sich bei Kindern wie in Tschernobyl auf einen zeitversetzten Ausbruch von Schilddrüsenkrebs einrichten müsse.

Auch die nüchterne Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) spendet wenig Trost, da sie Kritikern als zu regierungsnah gilt. Die WHO sagte 2013 in einer Studie nur leicht erhöhte Krebsfälle voraus. Denn in Fukushima wurde nicht nur weniger Strahlung als in Tschernobyl freigesetzt. Außerdem ging der größte Teil des radioaktiven Fallouts über dem Meer nieder.


Nur um die Prognosen

Die stark betroffene Region ist daher relativ klein. Sieben Prozent der Präfektur sind evakuiert, versucht Präfekturgouverneur Masao Uchibori das Bild von der Atomkatastrophe zu relativieren. Oder anders gesagt etwas mehr als 160.000 von zwei Millionen Bewohnern Fukushima. Und in den stark betroffenen und rasch evakuierten Gebieten berechneten die WHO-Experten eine Belastung von zwölf bis 25 Millisievert pro Jahr. Bei Mädchen in dieser Region stiege das Risiko, während ihrer Lebenszeit an Schilddrüsenkrebs zu erkranken, von 0,75 auf 1,25 Prozent.

In der nächsten Stufe halbiere sich das zusätzliche Risiko bereits. In den Regionen mit einer anfänglichen Belastung von drei bis fünf Millisievert sei das Risiko nur um weniger als sein Drittel erhöht. In den Regionen außerhalb dieser Zonen, von denen auch in Fukushima viele gibt, erwarten die WHO-Experten keinen Anstieg. Die Organisationen Ärzte in sozialer Verantwortung und Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) rechnen in einer diese Woche veröffentlichten Studie allerdings mit zwischen 9.600 und 6.6000 zusätzlichen Krebsfällen in ganz Japan, je nach Schätzung der Strahlendosis.

Allerdings handelt es sich dabei bisher nur um die Prognosen. In Fukushimas Fall steht das endgültige Urteil noch aus, wenigstens was Schilddrüsenkrebs bei Kindern angeht. Mehr als 300.000 Kinder und Jugendliche in der Präfektur wurden untersucht. Das Ergebnis bisher: Die meisten Kinder wurden einer Strahlendosis von weniger als einem Mikrosievert ausgesetzt, sagt Koichi Tanigawa von der Medizinischen Universität Fukushima.

Allerdings entdeckte sein Team in den ersten vier Jahren 116 Krebs- oder Krebsverdachtsfälle. Aber aufgrund eines Vergleichs mit der Entwicklung von Tschernobyl meint Tanigawa, dass die bisherigen Befunde wohl nicht mit der Atomkatastrophe, sondern den genauen und breiten Untersuchungen zusammenhingen.

Das Problem: „Es gibt Unsicherheit“, gibt der Experte zu. Denn es vergehen in der Regel vier bis fünf Jahre, bis Schilddrüsenkrebs ausbricht. Also beginnen erst jetzt die Jahre der Wahrheit. Und Tsuda warnte voriges Jahr, dass in der laufenden zweiten Untersuchungsrunde ein statistisch signifikanter Anstieg an Schilddrüsenkrebs beobachtet werden könne. Bis Ende 2015 wurden 51 weitere Fälle gefunden. Nur wird seine Methode von einigen Kollegen kritisiert.


„Verschließen Sie nicht Ihre Augen“

Und dann sind da noch die kritischen Stimmen von außerhalb, die sagen, was sich viele japanische Wissenschaftler und Medien nicht so deutlich zu sagen trauen. Greenpeace etwa mit der Anfang März veröffentlichten Studie „Radiation Reloaded“, die die amtliche Botschaft von der Rückkehr zur Normalität als Mythos zu entlarven versucht. Die betroffenen Regionen würden noch Jahrhunderte mit Strahlung zu tun haben. Außerdem betonen die Greenpeace-Experten, dass aus den nicht dekontaminierten Wäldern Radioaktivität in die Täler getragen würde.

Oder Angelika Claussen, Vizevorsitzende von der Europa-Sektion der IPPNW. Sie warnte jüngst in Tokio, dass es außer Krebs eine Reihe anderer möglicher Auswirkungen niedriger Strahlung wie Herz- und Kreislaufprobleme gebe. Daher müssten anders als bisher alle Arbeiter im und um das Akw, Evakuierte und Bewohner verstrahlter Zonen regelmäßig auf Herz und Nieren geprüft werden. „Als Epidemologe finden Sie nur etwas, wenn Sie danach suchen“, mahnt sie die Japaner. „Verschließen Sie nicht Ihre Augen.“

Wem sollen die Anwohner glauben? Die Aktivistin Muto bleibt bei soviel Kontroverse lieber vorsichtig. „Wir müssen unser Handeln auf das schlimmste Szenario ausrichten“, fordert sie von ihrer Regierung. Doch bei Ministerpräsident Shinzo Abe, der auf eine Wiederbelebung der Atomindustrie setzt, dürfte sie damit auf taube Ohren stoßen.

Die Regierung will wie geplant nach und nach weitere Siedlungen zur Besiedlung freigeben. Ob die Evakuierten allerdings zurückkehren werden, steht auf einem anderen Blatt. Narahas Beispiel zeigt, dass viele vielleicht mit den Füßen abstimmen und sich lieber anderswo in Fukushima oder Japan ein neues Leben aufbauen.

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