
Mit diesen Überstunden hatte Rainer Brüderle nicht gerechnet. Eigentlich war er ja nur als Krankheitsvertretung für Wolfgang Schäuble angereist, und dann das: Nach einer Nacht im Flugzeug und dem ersten Verhandlungstag bei der G-20-Finanzministerkonferenz im südkoreanischen Gyeongju kamen immer noch neue Treffen hinzu.
Der Streit zwischen den Partnern und der Ehrgeiz der Gastgeber zwangen den deutschen Wirtschaftsminister zu einem Sitzungsmarathon.
Die Europäer sind bereit, zurückzustecken, wenn sich auch die USA bewegen
Eigentlich sollte der erste Konferenztag mit einem „social dinner“ ausklingen, ausdrücklich keinem Arbeitsessen. Bei dem gemütlichen Beisammensein im Park sollte man sich – je nach Tagungsverlauf – einfach nett unterhalten oder notfalls auch gernhaben.
Doch plötzlich schwenkten die koreanischen Hausherren um. Sie wollten unbedingt einen langwierigen Streitpunkt zwischen den 20 führenden Wirtschaftsnationen der Welt noch auf dieser Ebene lösen und nicht erst dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs Mitte November überlassen: die Reform des internationalen Währungsfonds (IWF).
Das löste hektische Betriebsamkeit aus. Für den nächsten Morgen hatten die Koreaner schon für 7.30 Uhr die nächste Verhandlungsrunde über die Neuordnung der Institution in Washington angesetzt. Um dort voran zu kommen, wollten sich die USA und die Europäer abstimmen. Also setzten sich diese Partner bereits um 22 Uhr wieder zusammen: Brüderle, Finanzstaatssekretär Jörg Asmussen und Bundesbank-Präsident Axel Weber; die französischen Unterhändler (Ministerin Lagarde wollte lieber schlafen gehen), die Briten, Italiener und EU-Vertreter sowie IWF-Generaldirektor Dominique Strauss-Kahn.
Bei der IWF-Reform geht es darum, den aufstrebenden Nationen in Asien und Südamerika sowie großen Entwicklungsländern mehr Mitspracherechte und mehr finanzielle Möglichkeiten im IWF einzuräumen. Unterrepräsentierte Industrieländer sollen dabei nicht so schnell aufholen wie die so genannten Emerging Economies. Die Europäer sind bereit, dafür zurückzustecken, wenn sich beispielsweise auch die USA bewegen. Die sind da aber gar nicht so progressiv wie auf anderen Verhandlungsfeldern.
Exporteure können nicht gezwungen werden Auslandsaufträge abzulehnen
Am Tag vor der Konferenz hatte der amerikanische Finanzminister Timothy Geithner – nicht zum ersten Mal – mit einem programmatischen Brief für Verstimmung gesorgt.
Den „lieben Kollegen“ hatte er vorgeschlagen, zahlenmäßige Obergrenzen für Leistungsbilanzungleichgewichte einzuführen. Ab einem festzulegenden Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts müssten Defizitländer ihre Sparquote erhöhen und die Staatsverschuldung begrenzen sowie ihre Exportfähigkeit steigern.
Umgekehrt sollten Länder mit chronischen Überschüssen durch ihre Struktur- und Haushaltspolitik sowie die Wechselkurse die Binnennachfrage steigern und damit „die weltweite Nachfrage stützen“. Schließlich, so Geithners Ermahnung, erwarte die Welt gerade jetzt eine „stärkere Verpflichtung zur Zusammenarbeit“. Das zielte vor allem auf Deutschland und China.
Von beiden Ländern kam umgehend Ablehnung. Der Deutsche Brüderle konnte dabei auf die Zahlen verweisen, die er just kurz vor seinem Abflug aus Berlin am Donnerstagvormittag präsentiert hatte. Das für dieses Jahr angepeilte Wachstum von 3,4 Prozent beruhe nur zu einem Drittel auf den Ausfuhren. Der ganz überwiegende Teil stamme aus dem heimischen Konsum, und dieser Anteil könnte im nächsten Jahr sogar noch steigen, auf rund drei Viertel. Zudem seien die Löhne brutto um über zwei Prozent, netto sogar um 3,9 Prozent gestiegen.
Nach der ersten Sitzung der Finanzministerkonferenz verkündete Brüderle zumindest einen verbalen Erfolg: „In der Diskussion wurde anerkannt, dass Deutschland einen wichtigen Beitrag zur Belebung des weltwirtschaftlichen Wachstums geleistet hat“, freute sich der FDP-Mann, und legte mit Blick auf Geithner nach: Natürlich brauche man mehr Gleichgewichte – aber indem man die Wettbewerbsfähigkeit der Defizitländer steigere und „nicht ein Rückfall in planwirtschaftliches Denken die Weiterentwicklung bremst“. Mehr noch: Deutschland beispielsweise – und jeder anderen Marktwirtschaft - fehlen schlicht die Mittel, einen zu hohen Ausfuhrüberschuss so einfach zu beseitigen.
Exporteure können ja nicht gezwungen werden, ab Überschreiten des festgelegten Ausfuhrvolumens Auslandsaufträge abzulehnen. Auch wäre es ja grotesk, die Waren international teurer anzubieten, um den Absatz zu drosseln. Und eine nationale Währungspolitik fällt für Deutschland auch flach, seit es den Euro gibt. Brüderle plädierte deshalb dafür, dann wenigstens die Handelsbilanz zwischen den USA und dem Euro-Raum zu betrachten. Und, oh Wunder, da sind die Ungleichgewichte längst nicht so groß wie zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten.
Zwar ließen einige Staaten wie Japan und Frankreich – die Franzosen kritisieren seit Monaten die deutschen Exporterfolge - Sympathie für Geithners Vorschläge erkennen. Aber andererseits haben alle Länder auch weitere nationale Interessen, die eine uneingeschränkte Unterstützung anderer Positionen vor hohe Hürden stellen. Wie immer bei solchen Konferenzen stehen auch kleine Fortschritte sowie Lösungen für einzelne Kapitel unter einem Gesamtvorbehalt: Nichts ist beschlossen, bis alles beschlossen ist.
Da verspricht der zweite Verhandlungstag noch Spannung. Denn Geithner hatte in seinem Brief auch angedeutet, dass er genau nach diesem Motto denkt. Wenn es an der Front der Handelsungleichgewichte Fortschritte gebe, dann ließe sich auch „abschließende Einigkeit über ein ambitioniertes Paket“ zur Reform und Stärkung des IWF finden.