Angela Merkel betont gerne, beim Zusammenschluss der G20-Staaten handele es sich um keine Wertegemeinschaft. Schließlich seien die regelmäßigen G20-Gipfel maßgeblich aus pragmatischen Gründen im Chaos der letzten Weltfinanzkrise als Notfall-Regularium entstanden – sie wiesen also keine lange gewachsene und wertebestimmte Tradition auf, wie etwa die Treffen der G7.
Spötter könnten anmerken, dass damit G20-Treffen wie das in Hamburg, dem Merkel als Gastgeberin vorsteht, wie gemacht für die Bundeskanzlerin seien. Übertriebene Wertetreue hat Merkel schließlich schon lange niemand mehr vorgeworfen. Pragmatismus und Geschmeidigkeit, vom Atomausstieg über Wehrpflicht bis zur Ehe für alle dagegen sehr häufig.
Doch der Spott wäre diesmal unangebracht. Denn außenpolitisch verfolgt Merkel durchaus seit langem sehr entschieden Werte: Sie lauten allen voran Multilateralismus, Kooperation, stete Gesprächsbereitschaft und Verlässlichkeit. Dass man weltweit miteinander über Weltprobleme redet, gehört zu Merkels politischem Grundverständnis. Gerade deswegen hat sie die erweiterte G20-Gemeinschaft durchaus schätzen gelernt, weil dort auch Gesprächspartner anwesend sind, die nicht zu ihren regelmäßigen Vertrauten gehören. Dort kann sie auch ihre besondere Fähigkeit ausleben, selbst Mächtigste im Gespräch mit einander dazu zu bringen, nicht mehr machtvoll auf ihrer Position zu beharren. "Biegen, biegen, aber nicht brechen", dies habe ihr der Papst für den Gipfel in Hamburg geraten, sagte Merkel gerade im WiWo-Interview. Es ist höflich von ihr, diese Einsicht dem Kirchenführer Franziskus zuzuschreiben. Merkel hat sie jedoch beinahe erfunden.
Weil dem so ist, droht der Kanzlerin in Hamburg aber nicht weniger als die Umwertung all ihrer Werte. Damit ist nicht die Frage gemeint, ob es im Wahljahr nun womöglich schadet, wenn Hamburg im Flammenmeer der Demonstranten versinkt, während sie Trump, Putin oder Erdogan in der Elbphilharmonie bespaßt.
An dieser Frage wird sich kaum die Bundestagswahl im September entscheiden – zumal schwer zu erkennen ist, wie Herausforderer Martin Schulz daraus Kapital schlagen wollte. Soll der ehemalige Präsident des Europaparlaments und überzeugte Multilateralist Schulz die Kanzlerin ernsthaft dafür attackieren, dass sie zu einem Weltgipfel über Afrika und andere globale Probleme eingeladen hat?
Wesentlich wichtiger wird für Merkel, politisch wie persönlich, die Frage sein, ob sie an den einzigen politischen Werten, an denen sie nie gezweifelt hat, in Hamburg zweifeln oder verzweifeln muss.
Drohender Zerfall der Weltordnung
In den vergangenen Tagen hat sich das Bundeskanzleramt in ungewöhnlich intensiver Vorbereitungsdiplomatie aufgerieben – Lars-Hendrik Röller, Sherpa der Kanzlerin für den Gipfel und erfahrener Verhandler, hat immer wieder Änderungswünsche der Trump-Regierung erhalten, so dass die Hoffnung auf ein lesbares Abschlussdokument so gut wie geschwunden ist. Voriges Wochenende ist Röller eigens noch einmal nach Washington gereist.
22 Zahlen rund um den G20-Gipfel
Ein "Beast" wird durch Hamburgs Straßen fahren: so heißt das Spezialauto von US-Präsident Donald Trump.
Quelle: dpa
Drei Lieblingsfeinde gibt es für die G20-Gegner: Trump, Putin und Erdogan.
Zwölf Waggons hat der Sonderzug, der Aktivisten von Basel durch ganz Deutschland bis nach Hamburg bringen soll.
14 Einlass- und Personenkontrollen gibt es in den Sicherheitszonen rund um die Messehallen.
17 Hubschrauber der Bundespolizei und 11 der Länderpolizeien werden am Hamburger Himmel kreisen.
28 Jahre ist die „Rote Flora“ im Schanzenviertel, ein Zentrum des Anti-G20-Protests, nun schon von Linksautonomen besetzt.
29 Demonstrationen mit G20-Bezug sind zwischen dem 30. Juni und dem letzten Gipfeltag am 8. Juli angemeldet.
30 Lämmer sollen von eigens mitgebrachten Köchen für König Salman bin Abdulaziz Al-Saud und die saudi-arabische Delegation im Hotel „Vier Jahreszeiten“ gegrillt werden.
36 Delegationen mit rund 6000 Delegierten werden erwartet.
38 Quadratkilometer umfasst die Demonstrationsverbotszone.
40 Wasserwerfer der Hamburger Polizei könnten zum Einsatz kommen.
64 Prozent der Weltbevölkerung werden durch die G20 vertreten.
140 Staatsanwälte fahren extra G20-Schichten, insgesamt sind 250 zusätzliche Bereitschaftsdienste eingerichtet.
185 Hunde und 70 Pferde sind für die Polizei im Einsatz.
400 gewalttätige Demonstranten können in der eigens eingerichteten Gefangenensammelstelle in Harburg zeitweise festgesetzt werden.
1096 einzelne Glaselemente bilden die Fassade der Elbphilharmonie, in der Merkel und Co. Beethovens Neunter Sinfonie lauschen.
4245 Tage ist Angela Merkel Bundeskanzlerin, wenn sie am 7. Juli die G20-Kollegen in ihrer Geburtsstadt empfängt.
9349 Kilometer Luftlinie entfernt liegt eine Kneipe, in der man die Aktion „Soli-Mexikaner gegen Trump“ unterstützen kann: das Lokal „Brotzeit“ in Managua (Nicaragua).
12.000 Schokoriegel und 400 Kilogramm Bratwürste stehen im Medienzentrum in der Messe zur Verfügung. Insgesamt sind es rund 15 Tonnen Lebensmittel.
19.000 plus X Polizisten schützen den Gipfel...
100.000 Menschen könnten zu der abschließenden Großdemo „Grenzenlose Solidarität statt G20“ kommen.
185.000 Verpflegungsbeutel stellt die Hamburger Polizei ihren Beamten bereit. Am ersten Gipfeltag gibt es zudem Rindergulasch mit Nudeln.
Aber zu drei wesentlichen Problem-Feldern – Migration, Handel und Klima – ist jede Unterredung vermutlich zum Scheitern verurteilt, weil jeder über etwas anderes redet. Ob Migration etwas Gutes oder Schlechtes ist, darüber gehen die Meinungen derzeit etwa zwischen Washington und Berlin ebenso weit auseinander wie zum Freihandel. Und zum Klimawandel und der Klimapolitik könnte am Ende nur beredtes Schweigen stehen.
So droht ein Zerfallen der lange sicher geglaubten Weltordnung – gut denkbar, dass am Ende dieses Gipfels keine G20-Welt mehr zu erkennen ist, sondern eine G15-Welt oder gar eine, in der 19 gegen einen stehen. Merkel hat zwar klargemacht, dass sie ihre Prinzipien nicht für jeden Kompromiss opfern möchte und in so einer Welt weder leben noch regieren will.
Aber vielleicht wird sie es müssen. Doch nicht mehr miteinander reden zu können, das hat Merkel als Weltpolitikerin noch nicht erlebt. Selbst mit George W. Bush hat sie sprechen können, zumal der in seiner zweiten Amtszeit deutlich geschmeidiger und versöhnlicher agierte. Mit Barack Obama konnte sie dies nach anfänglichem Frösteln ohnehin. Und dass Russlands Präsident Putin sie mehrmals offen angelogen hat, hat Merkel zwar registriert. Aber in seiner Unzuverlässigkeit war Putin schon irgendwie wieder verlässlich.
Trump hat aber eine ganz neue Dimension in Merkels Welt gebracht: die Unverlässlichkeit, die an Unzurechnungsfähigkeit grenzt. Und, Stichwort "alternative facts", die Unfähigkeit, eine gemeinsame Gesprächsgrundlage zu finden. Beides könnte dieser Gipfel überdeutlich zeigen – und es könnte die größte Stärke der Politikerin Merkel unterminieren, eben ihre Fähigkeit, die Welt miteinander in Dialog zu bringen und zu halten.
Wenn selbst Merkel (angeblich die "Führerin der freien Welt) das aber nicht mehr schafft - wie viel wert ist dann ihr indirektes Wahlkampfargument, die Deutschen sollten noch einmal für sie stimmen, damit sie die Welt im Innersten zusammenhält. Diese Gipfel-Lehre fürchtet die Kanzlerin mehr als jeden Barrikaden-Brand.