Gaggenau und der Fall Yücel Das Ende der deutsch-türkischen Beziehungen

Der Streit um den Wahlkampf-Auftritt in Gaggenau zeigt: Bilaterale Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei existieren nicht mehr. Die Schuld für den Knall trägt Erdogan – er verliert die Kontrolle. Eine Analyse.

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Aktuell scheinen die Streitigkeiten zwischen Deutschland und der Türkei kaum noch aufzulösen zu sein. Quelle: dpa

Ich weiß nicht, wie oft schon geschrieben wurde, dass die deutsch-türkischen Beziehungen „am Tiefpunkt angelangt“ oder „einen neuen Tiefpunkt erreicht“ haben. In diesen Tagen gibt es wieder so eine Gelegenheit. In Istanbul wird der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel in Untersuchungshaft gesteckt – im schlimmsten Fall für bis zu fünf Jahre. Der Bürgermeister einer baden-württembergischen Kleinstadt lädt den türkischen Justizminister aus, der sagt daraufhin ein Treffen mit seinem deutschen Amtskollegen ab. Ankaras Außenminister setzt nach: Wenn Deutschland die deutsch-türkischen Beziehungen aufrechterhalten wolle, müsse es „lernen, sich zu benehmen“. Tiefer geht’s nicht mehr.

Die Wahrheit ist: Es gibt überhaupt keine deutsch-türkischen Beziehungen mehr. Wer sich gegenseitig einsperrt oder auslädt, der hat die Lust am kritisch-konstruktiven Dialog verloren. Wer in Berlin demonstrativ einen verurteilten Journalisten ins Präsidialamt einlädt und wer in Oberhausen, Gaggenau oder sonst wo das Recht der Meinungsfreiheit missbraucht, um für ihre Abschaffung im eigenen Land zu werben, der will provozieren.

Und wer einen (Flüchtlings-) Pakt schließt, der keinen gemeinsamen Nutzen hat, sondern nur einen politischen für die eine Seite und einen monetären für die andere, der braucht nicht von Partnerschaft zu sprechen.

Der Bürgermeister von Gaggenau, Michael Pfeiffer, hat mit seiner Absage an den türkischen Justizminister Bekir Bozdag nur den Vorhang für den vorläufig letzten Akt der deutsch-türkischen Eskalationspolitik geöffnet. Auch Deniz Yücel ist nur das Ventil für die angestaute Wut auf beiden Seiten, die jetzt freigelassen wird.

Zwischen der Türkei auf der einen Seite und Deutschland und dem gesamten Westen auf der anderen Seite lief es noch nie wie geschmiert. Schon bei der Gründung ihrer Republik glaubten viele Türken, der Westen habe sie durch den Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg zahlreicher Landmassen des Osmanischen Reiches beraubt.

Als dann die ersten Gastarbeiter nach Europa auswanderten, wurde sofort der Vorwurf laut, die Deutschen würden sie wie Dreck behandeln. Nicht zuletzt verfing sich die Bundesrepublik in den letzten Jahren im Schleier um die Aufklärung der NSU-Morde, bei denen acht Türken starben.

Den Dolchstoß für die deutsch-türkischen Beziehungen hat allerdings der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan gesetzt. Das liegt vor allem an Erdogans Kontrollverlust im eigenen Land. Das klingt zunächst paradox: Der 63-Jährige gilt als mächtigster Mann der Türkei seit Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der Republik. Seit 2002 hat Erdogan keine Wahl verloren, wird vom einfachen Bürger bis hin in hohe Wirtschaftskreise als Vordenker und Heilsbringer verehrt. Auch im Westen genoss Erdogan als Reformer hohes Ansehen.


Die türkischen Bürger verlieren das Vertrauen

Im April will Erdogan per Referendum sein Amt mit noch mehr Macht ausstatten, dann hätte er beinahe alle Fäden in der Hand. Doch die Zustimmung für sein umstrittenes Vorhaben ist nicht sicher. Viele seiner Unterstützer verstehen gar nicht erst, was es mit der Verfassungsänderung auf sich hat, ob sie ihnen am Ende nutzt oder schadet. Ein beachtlicher Teil stellt sich ohnehin gegen das Vorhaben, das ihnen vermutlich der letzten Freiheitsrechte berauben würde. Millionen werden mit „Nein“ stimmen.

Und was macht Erdogan? Er spielt den starken Mann. Lässt Journalisten verhaften, bereinigt zum zweiten Mal in zehn Jahren den türkischen Staatsapparat und lässt die freigewordenen Posten durch willfährige, aber mittelmäßig qualifizierte Leute ersetzen. Die Folge: Die Institutionen spielen verrückt, die Bürger verlieren das Vertrauen in ihre Führung. Und Erdogans Verfassungsreform droht zu scheitern.

Also versucht er, mit markigen Aktionen die vielen nationalistisch orientierten Menschen in seinem Land zu erreichen. Von ihnen denken viele, die Europäische Union sei eine Christentruppe, die den Türken immer wieder eins auswischen wolle. Sie klatschen Beifall wenn Erdogans Leute sagen, Deutschland müsse „lernen, sich zu benehmen“.

In Deutschland wiederum könnte jedes Einknicken vor Erdogan auch Einfluss auf die Bundestagswahl in diesem Herbst haben. Deswegen wird jetzt miteinander geredet, indem man gar nicht mehr miteinander redet. Die Bundeskanzlerin besuchte zwar noch Anfang Februar den türkischen Präsidenten und seinen Regierungschef Binali Yildirim. Doch seit sie lautstark und ungewohnt scharf die Inhaftierung des Deutsch-Türken Yücel kritisiert und seine Freilassung gefordert hatte, ließ sie sich auf die Provokationen Erdogans ein. Ab jetzt bis zur Bundestagswahl wird sie mit offenem Visier auf Erdogan zugehen.

Beide Länder können deshalb nicht mehr anders, als im kommunikativen Schützengraben zu warten und die Attacken des Anderen abzuwarten. Die Zeit der Partnerschaft ist längst vorbei. Schon die nächste Stufe lautet dann: „Feind“.

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