Gastbeitrag zum Syrien-Krieg Angriffe mit Chemiewaffen müssen bestraft werden

Die Ermittlungen zu Chemiewaffen-Angriffen in Syrien drohen eingestellt zu werden. Doch wenn Täter straffrei bleiben, könnten Angriffe zunehmen. Und die Chemiewaffenkontrolle würde weltweit geschwächt. Ein Gastbeitrag.

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Es spricht vieles dafür, dass Chemiewaffen zunehmend in Bürgerkriegen zum Einsatz kommen. So nutzt der Islamische Staat in Syrien (Foto) und Irak offenbar weiter Senfgas. Quelle: dpa

Berlin Man stelle sich vor: Die Polizei identifiziert zwei Mörderbanden, die in mindestens drei Fällen mehrere Menschen auf perfide Weise vergiftet haben. Die Indizien sind eindeutig, auch wenn die beiden Bandenchefs die Taten bestreiten. Die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen, aber beide Gruppen stehen im Verdacht, für Dutzende weiterer Morde verantwortlich zu sein, zudem geschehen fortlaufend weitere Tötungen nach dem bekannten Muster. Dann aber wird die Ermittlungsgruppe aufgelöst. Eine strafrechtliche Verfolgung wird nicht angestrebt. Die Verdächtigen bleiben auf freiem Fuß.

Undenkbar? Was innenpolitisch einen Aufschrei der Empörung auslösen würde, droht international Realität zu werden: Ende Oktober soll der „Gemeinsame Untersuchungsmechanismus“ der Vereinten Nationen und der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen seine Arbeit einstellen. Die Experten des „Joint Investigative Mechanism“ (JIM) hatten vor wenigen Wochen einen Zwischenbericht vorgelegt, der die Verantwortlichen für drei Chemiewaffeneinsätze in Syrien benannte. In zwei Fällen kamen die Ermittler zu dem Schluss, dass die syrische Luftwaffe Chlorgasbomben abgeworfen hat; in einem weiteren Fall deuten alle Umstände auf einen Einsatz von Senfgas durch den Islamische Staat hin. In Kürze werden die Ergebnisse der Untersuchungen weiterer Angriffe erwartet. Dann aber soll nach Stand der Dinge die Arbeit des JIM enden, das Mandat des Sicherheitsrates läuft aus. Die Ermittler müssten dann nach Hause gehen, obwohl es fast täglich neue Berichte über Angriffe mit Chemiewaffen in Syrien gibt.

Ein Ende der Ermittlungen würde internationale Bemühungen um die Chemiewaffenkontrolle zurückwerfen. Denn mit der Einrichtung des JIM im August 2015 hatte der Sicherheitsrat völkerrechtliches Neuland betreten. Noch nie zuvor hatte die internationale Gemeinschaft den Versuch unternommen, die Verantwortlichen für den Einsatz von chemischen oder anderen Massenvernichtungswaffen zu ermitteln, geschweige denn zur Rechenschaft zu ziehen. Bis dahin war es allenfalls darum gegangen festzustellen, ob Chemiewaffen eingesetzt wurden, wer es war, durfte nicht ermittelt werden. In der Konsequenz blieben die Täter straffrei.

Wir wissen aus der Geschichte, dass solche Straffreiheit das Tabu des Chemiewaffen-Einsatzes unterminieren kann. Saddam Hussein gab 1988 seinen Streitkräften den Befehl, die Bewohner der kurdischen Stadt Halabja mit Chemiewaffen zu töten. Mehr als 5.000 Zivilisten starben, ohne dass dies Konsequenzen für die irakische Regierung hatte. Es ist plausibel, dass andere Regime die damalige Tatenlosigkeit der internationalen Gemeinschaft mit Interesse zur Kenntnis nahmen. In der Folge jedenfalls bauten mindestens Irak und Syrien ihre Chemiewaffenprogramme aus.


Russland blockiert den Weg

Es spricht auch alles dafür, dass Chemiewaffen zunehmend in Bürgerkriegen zum Einsatz kommen. So nutzt der Islamische Staat in Syrien und Irak offenbar weiter Senfgas. Amnesty International berichtete jüngst, dass die Streitkräfte des Sudan in mehreren Fällen Chemiewaffen im dortigen Bürgerkrieg eingesetzt haben. Die Berichte sind kaum nachzuprüfen, weil Sudan sich gegen eine internationale Untersuchung wehrt. Ein Zusammenhang der Entwicklungen in Sudan mit den Chemiewaffensätzen in Syrien ist hypothetisch. Besorgniserregend aber sind die Berichte allemal, weil sie den Eindruck verstärken, dass Chemiewaffen hundert Jahre nach dem ersten großen Einsatz im Ersten Weltkrieg wieder normale Waffen der Kriegsführung werden.

Als wichtiges Signal, dass der Einsatz von Chemiewaffen geächtet bleibt, sollten alle Anstrengungen unternommen werden, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Arbeit des JIM war auch mit der Hoffnung verknüpft, dass erfolgreiche Ermittlungen zu einer Bestrafung der Verantwortlichen führen und damit die Akteure in Syrien und mögliche Nachahmer vom Erwerb und vom Einsatz chemischer Waffen abschrecken würden. Der Einsatz von Chemiewaffen ist unter dem 2002 in Kraft getretenen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) ein Kriegsverbrechen. Im Falle Syriens, das dem Statut nie beigetreten ist, müsste der UN-Sicherheitsrat die IStGH-Ermittler ermächtigen, Anklagen vorzubereiten. Russland aber blockiert einen entsprechenden Beschluss des UN-Sicherheitsrats.

Neben den Bemühungen, eine strafrechtliche Verfolgung der bereits ermittelten Kriegsverbrechen auf den Weg zu bringen, sollte das Mandat des JIM verlängert werden. Auch hier steht Russland im Weg. Moskau stand der Arbeit des JIM von Anfang an skeptisch gegenüber, weil es die (im Nachhinein begründete) Befürchtung hatte, dass der Verbündete Assad als Schuldiger aus den Ermittlungen hervorgeht. Bleibt es bei dieser Blockade im Sicherheitsrat, bliebe noch der Weg nach Den Haag. Dort sitzt die Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OVCW), die das Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ) umsetzt. Syrien ist vor drei Jahren dem CWÜ beigetreten (Sudan bereits 1999). Das CWÜ sieht vor, dass jeder der 192 Vertragsstaaten eine Verdachtsinspektion beantragen kann, wenn er aufgrund vorliegender Informationen berechtigte Zweifel an der Vertragstreue eines anderen Vertragsstaates hat. Kein einzelner Staat kann einen solchen Beschluss durch ein Veto verhindern. Auch wenn im Bürgerkriegsland Syrien Inspektionen nur bedingt möglich sind, könnte ein solches Gesuch dem OVCW-Generaldirektor den Weg für eigene Ermittlungen ebnen. So könnte immerhin weiter ermittelt werden. Zur Strafverfolgung käme es dennoch weiterhin nur durch eine Ermächtigung des IStGH durch den Sicherheitsrat, also mit Unterstützung Russlands.

Wird das JIM-Mandat verlängert, wäre es zudem wichtig, es zu erweitern. Bisher konnten die Experten nur jene dreiundzwanzig Fälle untersuchen, in denen der Einsatz von Chemiewaffen in Syrien vor Ende 2015 durch andere Ermittlungen bereits bestätigt worden war. Diese Beschränkung sollte der Sicherheitsrat aufheben, damit auch Berichten über neuere Chemiewaffenangriffe nachgegangen werden kann.

Angesichts des unglaublichen Leids durch Gewalt, Krankheit und Hunger in Syrien mag die Verfolgung der Chemiewaffenangriffe nebensächlich erscheinen. Sollte sich aber der Eindruck verfestigen, dass die internationale Gemeinschaft den Einsatz dieser und anderer verbotener Waffen nicht mit allen zur Verfügung stehenden Mittel verfolgt, ist es gut möglich, dass Chemiewaffen bald auch in anderen Konflikten eingesetzt werden.

Oliver Meier forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) u.a. zu Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Die Stiftung berät Bundestag und Bundesregierung in allen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Artikel erscheint auf der SWP-Homepage in der Rubrik Kurz gesagt.

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