Genozid in Armenien Völkermord? Oder nicht?

Für viele Armenier ist die Sache klar: Nicht von „Völkermord“ zu sprechen, ist wie den Holocaust zu leugnen. Jetzt will sich auch Deutschland der Bezeichnung anschließen. Doch die Situation bleibt knifflig.

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Menschen demonstrieren für die Anerkennung des Genozids am armenischen Volk 1915. Viele Länder erkennen den Völkermord bis heute nicht an. Quelle: dpa

Eriwan Für die Südkaukasusnation Armenien könnte die Sitzung des Bundestags an diesem Donnerstag zu einem zentralen Erfolgsmoment ihrer langjährigen Außenpolitik werden. Seit Jahrzehnten arbeitet die Ex-Sowjetrepublik darauf hin, dass die Massaker an den Armeniern durch das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg international als Genozid anerkannt werden.

Der Bundestag will mit einer Resolution von Union, SPD und Grünen die Gräueltaten als „Völkermord“ verurteilen. Für Eduard Scharmasanow, Vize-Parlamentschef in der Hauptstadt Eriwan, standen die Chancen nie besser als jetzt. „Meine Überzeugung basiert auf informellen und formellen Kontakten“, sagt Scharmasanow.

Schätzungen zufolge kamen bei der Vertreibung, die vor 101 Jahr auf dem Gebiet der heutigen Türkei begann, bis zu 1,5 Millionen Armenier um. Die osmanische Führung verdächtigte die christliche Minderheit, mit dem Kriegsgegner Russland zu kollaborieren. Historiker sprechen von systematischer Verfolgung. Die Türkei – Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches – geht von deutlich weniger Toten aus und lehnt den Ausdruck „Genozid“ entschieden ab.

Auch die Bundesregierung hat den Begriff bisher gemieden. Doch seit Bundespräsident Joachim Gauck und Bundestagspräsident Norbert Lammert 2015 das V-Wort ausdrücklich benutzt haben, zeichnet sich ein Wandel in Berlin ab. Deutschland wäre in der Riege der Staaten wie Frankreich und Russland, die den Genozid beim Namen nennen, umso gewichtiger, als das Deutsche Kaiserreich als Verbündeter der Osmanen im Ersten Weltkrieg nachweislich von den Massakern wusste.

„Der Völkermord ist nicht nur ein Problem des armenischen Volkes. Das ist ein Schmerz, den wohlwollende Menschen auf der ganzen Welt teilen“, sagt der armenische Präsident Sersch Sargsjan. Es enttäuscht viele seiner Landsleute, wenn strategische Erwägungen einer Ächtung als Genozid im Wege stehen. So bleibt die Supermacht USA bisher zurückhaltend – wohl aus Rücksicht auf den Nato-Partner Türkei. Und auch Berlin steht mit der erwarteten Resolution unter Druck, gilt Ankara doch als wichtiger Partner in der EU-Flüchtlingskrise.


Viele fordern Entschädigung und Gerichtsverfahren

Zu den „wohlwollenden Menschen“ zählt Russlands Präsident Wladimir Putin. Beim 100. Jahrestag 2015 hielt er in Eriwan eine bewegende Rede. Ein Besuch der Genozid-Gedenkstätte, deren mächtige Basaltstelen auf einem Hügel mahnend in den Himmel ragen, ist für russische Politiker obligatorisch. Erst im April legte Regierungschef Dmitri Medwedew hier Blumen nieder.

Russland ist Armeniens engster Verbündeter. Russische Marken prägen das Straßenbild in Eriwan, wo im Jahr gut 300 Tage die Sonne scheint. Das Land mit drei Millionen Einwohnern hängt von Energielieferungen Russlands ab. Militärisch gilt Putins Reich als Schutzmacht. Armenien sieht sich von Feinden umzingelt: Im Westen teilt das Land mehr als 300 Kilometer Grenze mit der Türkei, die wegen des Genozid-Streits dicht ist. Im Osten lauert der Erzfeind Aserbaidschan.

Gerade wegen der Vergangenheit ist Armenien so sensibel im Jahrzehnte alten Konflikt mit Aserbaidschan um das von Baku abtrünnige Gebiet Berg-Karabach. Erst im April war wieder Blut geflossen in der vor allem von Armeniern bewohnten Unruheregion. Mit rund 120 Toten war es die schwerste Eskalation seit gut 20 Jahren. „Wir werden keinen neuen Genozid an Armeniern zulassen“, sagt Sargsjan entschlossen.

Das Andenken an das Leid ist den Armeniern in die Gene übergegangen. Auch die geschätzt zehn Millionen Mitglieder der Diaspora teilen den Wunsch nach Gerechtigkeit. Längst werden etwa in den USA die Rufe von Armeniern laut nach Entschädigung und Gerichtsverfahren.

Doch die Regierung weiß, dass Revanchismus nicht weiter führt, dass Dialog nötig ist. Die türkische Gesellschaft habe sich verändert, meint Sargsjan zum Jahrestag am 24. April. „Heute weiß sie mehr über ihre Geschichte als früher, morgen wird sie mehr wissen als heute.“

Mit einem Kurswechsel der Türkei rechnet in Eriwan aber niemand. Daran dürfte auch die Resolution des Bundestages nichts ändern. Doch Fürsprache kommt gut an bei den Armeniern. Mit Spannung erwarten sie Ende Juni den nächsten „wohlwollenden Gast“ Papst Franziskus. Das katholische Kirchenoberhaupt hatte bereits im vergangenen Jahr offen den „ersten Völkermord im 20. Jahrhundert“ gebrandmarkt.

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