Geo-Economics Die Welt im Jahr 2016: Jeder gegen jeden

Die Globalisierung sollte die Staatengemeinschaft zusammenführen. Doch nun erleben wir das Gegenteil. Die stärkere Verknüpfung führt zu neuen Gefahren – auch für den Welthandel. Für Europa ist die Lage besonders bitter.

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Anti-TTIP-Demo im Oktober 2015 in Berlin: Europaweit ist die Sorge vor dem Freihandelsabkommen mit Amerika in der Bundesrepublik am stärksten ausgeprägt. Quelle: dpa

Schau mal, Welt, wer da siegt: Bernie Sanders, Liebling linker Demokraten, hat seine Vorwahltriumphe gegen Hillary Clinton unter anderem dem Mantra zu verdanken, Freihandel sei eine „Katastrophe“. Und Donald Trump, Hoffnungsträger der Republikaner nach einem klaren Sieg in New Hampshire, ist zwar ein Milliardär. Aber er ist ein Milliardär, der einen Zaun um sein Land bauen und Apple vorschreiben will, Computer verdammt noch mal nicht in China zu bauen, sondern in den USA! Freier Handel sei ja wunderbar, sagt Trump. Doch das gelte nur, solange ihn intelligente Politiker regulierten. Leider habe Amerika aber ausschließlich dumme Entscheidungsträger, end of discussion.

So klingt es gerade in den Vereinigten Staaten von Amerika, dem Mutterland des Kapitalismus, wo Antikapitalismus – oder zumindest Widerstand gegen Freihandel – zur Wahlkampfmunition geworden ist. Und der Ton, den Amerika vorgibt, schallt um den ganzen Globus. So ist in dieser unübersichtlichen Welt voller Krisen – erst der Euro, dann Griechenland, kurz darauf die Ukraine, nun Syrien und die Flüchtlinge, den drohenden Brexit nicht zu vergessen – ein Kollateralschaden zu beklagen: die Vision eines immer engeren globalen Miteinanders, des Wandels durch mehr Handel. Internationaler Warenaustausch ist seit Jahren rückläufig, Wachstumsraten nähern sich null an.

„Geo-Politics“, das politische Denken in Einflusssphären, mag verpönt sein. Berufen sich Präsidenten wie Russlands Wladimir Putin darauf, müssen sie sich Denke aus dem 20. Jahrhundert vorhalten lassen. Aber „Geo-Economics“ erleben gerade eine Renaissance, nur in einer brutaleren, einer egoistischen Spielart. In unserer vordergründig so vernetzten Welt ist sich jeder (Staat) längst wieder selbst der Nächste.

Verknüpfung birgt Gefahr

Wolfgang Ischinger, Impresario der Münchner Sicherheitskonferenz, bei der ab Freitag die Mächtigen der Welt zusammenkommen, kennt diese Sorgen. Der Report, den er im Vorfeld der Sitzung vorlegte, trägt den düsteren Titel: „Grenzenlose Krisen, rücksichtslose Spielverderber, hilflose Schutzmächte.“ Ischingers Befund: Zwar rückt die Welt gefühlt stetig enger zusammen, jedes Selfie, das eine deutsche Kanzlerin mit Flüchtlingen schießt, ist binnen Minuten quer durch den Nahen Osten zu bestaunen.

Die Freihandelsabkommen

Doch genau wie Facebook – angelegt von Studenten als Softwareinstrument, Menschen zu vereinen – längst Menschen entzweit oder zumindest verführt, es sich in seiner eigenen Meinung bequem zu machen, so störanfällig erweist sich die staatliche Hardware. Die Europäische Union sollte den Kontinent vereinen, aber hat in der Krise dessen Unterschiede erst vor Augen geführt. Solange Griechen und Deutsche nicht in einen Währungsverbund gepresst waren, waren kleine Mentalitätsunterschiede schlicht amüsant. Nun können sich griechischer Schlendrian und deutsche Regelverliebtheit ehrlich gegenseitig nicht mehr ausstehen.

Im Globalisierungswettlauf, der den Nationalstaat aufheben soll, erlebt der Nationalstaat daher gerade eine Renaissance. Wir stehen vor connectivity wars, heißt es in einer Studie des European Council on Foreign Relations mit dem Untertitel: „Warum Migration, Finanzen und Handel die geo-ökonomischen Schlachtfelder der Zukunft darstellen.“ Deren Kernthese lautet: die engeren Bande sind neben Chance auch Gefahr – weil so ganz neue Waffen in Umlauf geraten.

Die Amerikaner etwa setzen ihre Dominanz des globalen Finanzsystems als Waffe ein, und zwar nicht nur gegen korrupte Fifa-Funktionäre. Staaten wie die Türkei oder Griechenland nutzen Flüchtlinge als Waffe, um liberale Demokratien zu erpressen, bei Menschenrechten oder Budgettreue nicht mehr so genau hinzuschauen.

Verhandlungen mit ausgewählten Staaten

Saudis und US-Frackingfirmen überbieten sich im Wettlauf um das billigste Öl, in der Hoffnung, länger mit einer Waffe gegen den jeweiligen Marktgegner stehenzubleiben. Und „Big Data“ kann Gutes bewirken, aber zugleich als Druckmittel dienen, schon weil wenige US-Megakonzerne den Rest der Welt abgehängt zu haben scheinen.

Zugleich nähern sich Mächtige untereinander an, entfernen sich aber immer mehr vom Bürger, auch wegen wachsender Ungleichheit, wie selbst die Elitefibel „Financial ­Times“ schreibt: „Eliten werden zunehmend als korrupt gesehen. So wie die USA sich bei der Einkommensverteilung Lateinamerika angenähert haben, erleben wir Populisten im Stil Lateinamerikas.“ Globalisierung kann nicht mehr länger als Heilsversprechen gelten, das Wohlstand für alle schafft.

Was Deutsche und Amerikaner über TTIP denken

Eine Folge: Globalisierung à la carte. Statt in der Welthandelsorganisation WTO multilateral zu verhandeln, schließen vor allem die Amerikaner mit ausgewählten Staaten Handelsabkommen ab, meist gegen China (auch in Europa würden die Amerikaner dies mit TTIP gerne tun, doch dort ist das Misstrauen gegen US-dominierten Freihandel ausgeprägt, was obige These unterstreicht). Umgekehrt traut China bestehenden Institutionen nicht, also leistet es sich eine konkurrierende Investitionsbank und eine neue Seidenstraße.

Eigentlich müsste die Renaissance der „Geo-Economics“ der EU entgegenkommen, schließlich bleibt sie wirtschaftliche – und regulatorische – Supermacht. Und das Herz dieser EU schlägt deutsch.

Der Westen muss überzeugen

Aber der britische Publizist Hans Kundnani diagnostiziert zu Recht eine „Dialektik der Einkreisung“ in Europa. Die geopolitischen Dilemmata, mit denen der Kontinent seit Jahrhunderten zu kämpfen gehabt habe, seien in geo-ökonomischer Form wiedergekehrt. In der EU stünden Gläubigerstaaten den Schuldnernationen in bitterer Ablehnung gegenüber – zu der Berlins Drängen auf einen Sparkurs beigetragen habe. „Deutschlands Unfähigkeit, andere Länder zu überzeugen, auch nur ein paar Hundert Asylbewerber aufzunehmen, legt nahe, dass es dem Land an Legitimität fehlt“, schreibt Kundnani.

Die bräuchte es aber, gerade jetzt. Will der Westen sich gegen erstarkende autoritäre Bewegungen behaupten, gilt es, die Stärke der westlichen Marktwirtschaft zu feiern, etwa beim Sozialstaat, dem Umweltverständnis, der offenen und freien Gesellschaftsordnung. „Der Westen muss die Welt wieder von der Überlegenheit von Demokratie und Marktwirtschaft überzeugen“, fordert der Buchautor Thomas Seifert. Dafür müssten Demokratie und Marktwirtschaft aber glaubwürdig – und der Markt nicht wie eine Arena der Gier erscheinen.

Doch an Glaubwürdigkeit mangelt es, überall. In Frankreich regiert die Angst vor dem Front National. Polens Nationalisten machen Medien mundtot, und Großbritanniens Konservative kapseln sich von der Welt ab. Deutschland wirkt überwältigt von der Flüchtlingskrise – und die USA sind global im Rückzug begriffen und daheim zerrissen, weil der Gesellschaftsvertrag für viele nicht mehr funktioniert. Der Westen wirkt ermattet – und neu gespalten. Das ist, neben allem anderen, auch ein Standortnachteil.

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