Georgien „Tiflis fühlt sich an wie Moskau vor zehn Jahren“

Im Ukraine-Krieg stellt sich die georgische Bevölkerung gegen Russland. Trotzdem profitiert das Land wirtschaftlich. Quelle: imago images

Das kleine Land im Südkaukasus erlebt seit Beginn des Ukrainekriegs einen Wirtschaftsboom. Das liegt nicht zuletzt an Hunderttausend zugezogenen Russinnen und Russen.

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Ivan Sokolov lädt in eine Bar in der georgischen Hauptstadt Tiflis ein, auf deren Eingang in Großbuchstaben „Russia is Occupant“ (dt. Russland ist Besatzer) steht. Die politische Haltung der Eigentümer ist damit klar. Ebenso, wer erwünscht ist und wer nicht. Tief sitzen noch die Erinnerungen und Schmerzen in dem Land, das vor gerade einmal 15 Jahren ähnliches durchgemacht hat, wie es die Ukraine gerade erlebt.

Ivan Sokolov ist selbst Russe. Seinen Namen mussten wir ändern, weil seine Familie noch in Russland lebt und die Angst groß ist, dass sie unter seinen Äußerungen leiden muss. Sokolov ist einer von rund 100.000 Russinnen und Russen, die in den letzten 15 Monaten nach Georgien geflohen sind. Sie kamen in zwei Wellen: Im März 2022, als der Krieg begann, und im September, als Putin die Teilmobilmachung verkündete.

Krieg, Sanktionen, Freiheitsverlust – das alles trieb und treibt die Menschen in Scharen aus ihrer Heimat. Putin scheucht mit seinem Krieg vor allem junge, hoch qualifizierte Menschen aus seinem Land. Nach Georgien, aber auch nach Kasachstan, Usbekistan, Armenien, in die Türkei oder nach Europa.

Die meisten Russinnen und Russen, die das Land verlassen, gehören zu dem wohlhabenderen Teil der Gesellschaft und bringen Kaufkraft in ihre neue Heimat. Laut einer Umfrage des German Economic Teams haben 84 Prozent der zugezogenen Russinnen und Russen eine höhere Bildung, knapp 60 Prozent arbeiten im IT-Sektor. Das durchschnittliche Monatseinkommen liegt bei 2600 US-Dollar. Die Georgierinnen und Georgier verdienen im Vergleich durchschnittlich rund 650 US-Dollar monatlich.

Das zeigt Wirkung: 2022 erlebte Georgiens Wirtschaft einen regelrechten Boom. Seit Beginn des Ukrainekriegs konnte das Land mit 3,7 Millionen Einwohnern im Südkaukasus ein Wirtschaftswachstum von über zehn Prozent verzeichnen. Die Russinnen und Russen eröffnen Bankkonten, nehmen Dienstleistungen in Anspruch, haben teilweise ihre gesamten Unternehmen mit ins Nachbarland genommen. Laut einem Bericht von Transparency International-Georgia wurden 2022 15.000 russische Unternehmen in Georgien registriert.

Ivan Sokolov kam kurz nach Kriegsbeginn, Anfang März 2022, nach Tiflis. Er arbeitet seit einigen Monaten Remote für ein russisches Blockchain-Unternehmen, das in Portugal sitzt. Jetzt, mehr als ein Jahr später, ist sein gesamter Freundeskreis hier. „Tiflis fühlt sich an wie Moskau vor zehn Jahren“, sagt er.

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von Angelika Melcher

Doch nicht nur Geflüchtete wie Sokolov sorgen für das Wirtschaftswachstum. Georgien springt an Stellen ein, wo die EU durch Sanktionen als Lieferregion weggefallen ist. Der Export von Textilien und Lebensmitteln ins Nachbarland stieg genau so wie die Zahl an reexportierten Autos. Außerdem exportierte Georgien 2022 23 Prozent mehr Wein nach Russland als noch im Vorjahr.

Auch der Tourismus boomt: Georgien ist eines der wenigen Länder, in welches Russinnen und Russen visafrei einreisen können. 2022 waren 20 Prozent aller Touristinnen und Touristen in Georgien aus Russland, das sind 4,3 Prozent mehr als 2021. Insgesamt nahm Georgien im letzten Jahr durch Überweisungen, Tourismus und Warenexporte aus Russland rund 3,6 Milliarden US-Dollar ein, dreimal mehr als noch im Jahr zuvor, berichtet Transparency International-Georgia.

Die dunkle Seite des Profits

Das alles macht Georgien zu einem großen Teil abhängig von Russland. Würde das Land die wirtschaftlichen Beziehungen zu Wladimir Putins Reich einstellen, würde das mit einer wirtschaftlichen Katastrophe gleichzusetzen sein, sagen Experten.

Dass das Land von dem Krieg profitiert, will sich hier aber niemand auf die Fahne schreiben. Die georgische Regierung versucht sich zu distanzieren. Ekaterine Guntsadze, die stellvertretende Finanzministerin Georgiens, betont gegenüber der WirtschaftsWoche, dass der Kriegsfaktor im Wirtschaftswachstum als Ausreißer betrachtet werden sollte: „Dies ist eine sehr komplizierte Situation, und wir betrachten sie als solche“, kommentiert sie. „Sie macht uns nicht glücklich und wir sind und müssen vorsichtig sein.“

Sie verweist auf die negativen Auswirkungen. Die Mieten seien gerade in der Hauptstadt Tiflis durch die Zugezogenen auf Rekordsummen gestiegen, auch die Inflation steigt weiter. „Außerdem würden wir lieber Touristen aus der Ukraine oder Belarus haben, als Migranten aufgrund des Krieges“, sagt die stellvertretende Finanzministerin.

Provozieren will man die Russen aber auch nicht. Zwar zieht es das Volk Richtung EU. 2008, als die russischen Truppen in Georgien einmarschierten, kam aber niemand zur Hilfe. Noch immer sind nur wenige Kilometer von der Hauptstadt, in Südossetien, russische Soldaten und Raketen stationiert – fast 20 Prozent Georgiens sind noch russisch besetzt.

Auf der anderen Seite der Grenze versucht Putin währenddessen die Wogen zu glätten: Vor drei Wochen hat der russische Präsident überraschend die Visapflicht für Georgierinnen und Georgier aufgehoben und georgischen Fluglinien die Nutzung des russischen Luftraums gestattet. Kurz danach hat er Georgien Entgegenkommen in den lange angespannten Beziehungen angeboten. „Wir sind bereit, unseren Teil des Weges zu gehen, machen entgegenkommende Schritte und werden das auch weiter tun in Abhängigkeit davon, wie unsere Partner reagieren“, sagte der Kremlchef letzte Woche bei einem Treffen mit russischen Unternehmern.

Lesen Sie auch: So will Georgien grünen Strom in die EU exportieren

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