Gescheiterter Putschversuch in der Türkei Trügerischer Siegesrausch in Istanbul

Tausende feiern den gescheiterten Putsch auf den Straßen Istanbuls, als hätten sie ein WM-Finale gewonnen. Doch etwas fehlt: die Touristen. Und eine gefährliche Abstumpfung mischt sich in die Feierlaune. Ein Report.

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Die Stimmung nach dem gescheiterten Putschversuch des Militärs in der Türkei ist gespalten: Erdogan-Anhänger zumindest feiern, als ob es dabei keine Toten gegeben hätte. Quelle: dpa

Istanbul Der Sprecher brüllt in das Mikrofon, als lautete sein einziger Auftrag, der Menge vor ihm einzuheizen. Er könnte auch flüstern, denn die vielen Tausend Menschen, die sich um ein Uhr nachts auf dem zentralen Taksim-Platz in Istanbul versammelt haben, sind in Feierlaune. Jeder trägt eine rote Flagge, schwenkt sie entweder in der Hand oder hat sie um den Körper gehängt.

Dann explodiert die Menge fast: Der Moderator holt einen Jungen auf die Bühne. Er soll den Istiklal Marsi spielen, den Unabhängigkeitsmarsch. Das ist die Nationalhymne der Türkei. Mit vorpubertärer Stimme schreit der vielleicht Zwölfjährige die Verse ins Mikrofon, die Menge tut es ihm gleich: „Nicht wend' dein Antlitz von uns / O Halbmond, ewig sieggewohnt. / Scheine uns freundlich / Und schenke Frieden uns und Glück, / Dem Heldenvolk, das dir sein Blut geweiht. / Wahre die Freiheit uns, für die wir glühn, / Höchstes Gut dem Volk, das sich einst selbst befreit.“

Ich habe an vieles gedacht, als ich an meinem Wohnort Zürich in eine Maschine von Turkish Airlines gestiegen bin, um nach Istanbul zu fliegen. Sie könnten mich als Journalisten gar nicht erst ins Land lassen; das Flugzeug könnte komplett leer sein; in Istanbul würde ich von Militär empfangen und in der Stadt von einer gespenstischen Leere.

Das Gegenteil war der Fall. Das Flugzeug: voll bis fast auf den letzten Platz. Die Flughafenkontrolle: zu beschäftigt, um allzu lange auf meinen Reisepass zu schauen. Und überhaupt: Am Flughafen Atatürk in Istanbul, dem größten Flugplatz des Landes, patrouillieren schon seit Jahren mehr Polizisten als in der Schweiz oder in Deutschland. Dieses Mal ist es nicht anders. Überall Security, aber nicht mehr als sonst.

Die Regierung geht seit dem Putschversuch mit mehr als 260 Toten mit harter Hand vor; im Alltag bemerkt man davon aber kaum etwas. Knapp 30.000 Staatsbedienstete wurden bislang suspendiert, mehr als 8.500 Menschen festgenommen. Alleine das Bildungsministerium suspendierte am Dienstag 15.200 Mitarbeiter, gegen die Ermittlungen wegen mutmaßlicher Verbindungen zu Fethullah Gülen eingeleitet wurden. Der türkische Sender NTV berichtete, außerdem sei 21.000 Lehrern an privaten Bildungsreinrichtungen die Lehrerlaubnis entzogen worden. Ebenfalls wegen angeblicher Gülen-Verbindungen entzog die Telekommunikationsbehörde RTÜK insgesamt 24 Radio- und Fernsehstationen die Sendelizenz. Gülen, das Oberhaupt einer islamischen Bewegung, wird von Erdogan immer wieder vorgeworfen, er würde einen Parallelstaat errichten. Auch beschuldigt der Staatschef Gülen, den aktuellen Putschversuch angezettelt zu haben.

Den Gefeuerten werden Verbindungen zu Gülen vorgeworfen, die aus einem Netzwerk von Schulen und Medien besteht. Der Sprecher von Präsident Erdogan, Ibrahim Kalin, sagte, eine „gülenistische Clique im Militär“ sei für den Putsch mit mehr als 200 Toten und rund 1.500 Verwundeten verantwortlich. Ankara erwarte, dass Washington Gülen aufgrund des Verdachtes und der Beweise ausliefern werde; seit den 1990ern lebt Gülen dort im Exil. Im Übrigen sei ein bloßer Verdacht für eine Überstellung ausreichend, erklärte Kalin.

US-Regierungssprecher Earnest sagte später, er habe den Fall Gülen bei einem Telefonat mit Obama zur Sprache gebracht. Doch würde eine Entscheidung über eine Auslieferung Gülens nicht persönlich von Obama, sondern entsprechend der in einem seit langem bestehenden amerikanisch-türkischen Vertrag festgelegten Regeln getroffen.

In Istanbul angekommen, nehme ich für gewöhnlich den Flughafenbus in die Stadt; zumindest, wenn ich abseits der Hauptverkehrszeiten ankomme. Wie jetzt gegen Mitternacht. Doch dieses Mal bekomme ich ein mulmiges Gefühl, als ich den Ausgang zusteuere, vor dem das Busterminal liegt. Genau hier haben vor drei Wochen drei Terroristen um sich geschossen und 41 Menschen getötet.

Jetzt sieht dieser Teil des Flughafens aus, als wäre nie etwas geschehen. Das Gebäude wirkt nicht beschädigt. Taxifahrer buhlen am Ausgang um Fahrgäste, der „Havatas“-Bus fährt gerade ein, als ich das Gebäude verlasse. Von Terror keine Spur. Dann bemerke ich doch etwas: Zwei Gendarmeristen, die mit Maschinenpistolen den Bussteig abgehen. Sie bemerken nicht einmal den Mann mit Spiegelreflexkamera und Duty-Free-Tüte, der sich halb verrenkt, um ein Foto von den beiden zu schießen. Kurz darauf steige ich in den Bus Richtung Taksimplatz. Die Stadt wirkt wie leergefegt. Das liegt aber weniger an den Ereignissen der vergangenen Tage. Sondern viel mehr daran, dass gerade Sommerferien sind. Jeder Istanbuler, der es sich leisten kann, verbringt diese Zeit nicht in der stickigen Großstadt, sondern an der Südküste.

Es dauert keine fünf Minuten, bis der Bus durch ein Hupkonzert fährt. Autos mit Türkeiflaggen auf der Motorhaube rasen an mir vorbei. Menschen feiern auf der Straße wie nach einem gewonnenen WM-Finale. Bis zur Endhaltestelle am Taksim-Platz fährt der Bus fünf Mal an solchen Autocorsos vorbei. Sie feiern den Sieg über den Putsch. Ob das alles Erdogan-Anhänger sind? „Nein, das sind Demokraten“, sagt mein Sitznachbar mit stolzer Stimme. Er sieht aus, als wäre es nicht der erste Umsturzversuch, den er miterlebt hat. Das Militär übernahm drei Mal die Macht, neben 1960 noch 1971 und 1980. Jeder Putsch endete blutig. Jedes Mal danach war das Land für eine gewisse Zeit isoliert und in Schockstarre.


„Es passiert einfach zu viel, um überhaupt noch innezuhalten.“

Kein Wunder, dass der Sieg über die Putschisten von 2016 nun frenetisch gefeiert wird. Ich steige am Taksimplatz aus und fühle mich wie auf einem Festival. Zwei große Bühnen sind aufgebaut, jeweils mit komplettem Technikteam. Alles wirkt professionell. Auf der einen Bühne ist bloß eine Leinwand, auf der die Silhouette der Türkei projiziert ist, darin ein Kamera-Videobild von der Menge vor dieser Bühne. In regelmäßigen Abständen wird ein Screenshot von diesem Bild erstellt und unter dem Stichwort „Öffentliche Mahnwache“ auf Twitter geteilt.

Auf der anderen Bühne steht der Einheizer und kündigt gerade den Unabhängigkeitsmarsch an. Ich stelle mich dazu und bekomme sofort von einem Mann eine Türkeifahne um die Schulter gelegt. „Warum trägst du noch keine?“, fragt er vorwurfsvoll im Vorbeigehen. Erst jetzt bemerke ich, dass überall Fahnenverteiler rumlaufen.

Der Umsturzversuch vom Freitagabend hat auch Forderungen nach der Todesstrafe ausgelöst. Erdogan hat angekündigt, einer Wiedereinführung zuzustimmen, sollte das Parlament eine entsprechende Verfassungsänderung beschließen. Die ultrarechte Oppositionspartei MHP kündigte am Dienstag an, eine solche Initiative zu unterstützen. Dann würde im Falle eines Referendums eine einfache Mehrheit im Volk reichen, um die 2004 abgeschaffte Todesstrafe wieder einzuführen. Die EU hat gleich angekündigt, die Beitrittsverhandlungen in diesem Fall auf Eis zu legen.

Erst jetzt fällt mir auf, was ich an einem Juli-Abend in Istanbul vermisse: die Touristen. Mir sind bisher nur Türken begegnet. Weder im Flugzeug, noch im Terminal, im Bus und auch nicht auf dem Taksim-Platz, der sonst der Treffpunkt schlechthin für die Party-Touren der Ausländer ist.

Für Mittwochnachmittag kündigte Erdogan eine „wichtige Entscheidung“ an. Nach dem gescheiterten Putsch kommt in der Türkei an dem Tag erstmals der Nationale Sicherheitsrat zusammen. Die Sitzung wird von Präsident Erdogan geleitet, der formell der Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist. Im Nationalen Sicherheitsrat sind neben Erdogan und Ministerpräsident Binali Yildirim auch mehrere Kabinettsmitglieder und Militärführer vertreten, darunter Armeechef Hulusi Akar. Übrigens: Eingeführt hat diesen Sicherheitsrat die Militärregierung in den 1980ern – nachdem sie erfolgreich einen Putsch unternommen hatte.

Als ich bei meinem Freund Arif ankomme, fühle ich mich endlich wieder wohl. Die Luft ist vom Rauch selbstgedrehter Zigaretten geschwängert. „Der Putsch musste ja irgendwann kommen“, bringt er das Gespräch dann doch auf den gescheiterten Versuch vom Freitag. Er ist froh, dass er nicht geglückt ist; gleichwohl hält auch er ihn für stümperhaft ausgeführt.

Ihn stört etwas anderes: die Gleichgültigkeit der Demokratie-Demonstranten auf dem Taksimplatz. „Vor vier Tagen sind hunderte Menschen gestorben“, fährt es aus ihm heraus, „egal, ob sie die Regierung befürwortet oder kritisiert haben“. Und auf dem Taksim werde so getan, als wäre der Sieg über die Putschisten ohne Blutvergießen abgelaufen. „Das Land eilt von Sensation zu Sensation, von Anschlag zu Anschlag und von Emotion zu Emotion“, sagt Arif. „Es passiert einfach zu viel, um überhaupt noch innezuhalten.“

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