In seinen letzten Wochen als Präsident der USA hat Barack Obama sich gesprächsweise gesorgt, dass die Menschen „in ihren kleinen Blasen isoliert“ seien – und im Gegenzug die Literatur gefeiert als virtuellen Raum, in dem die Beziehungslosigkeit der modernen Individuen aufgehoben sei. Der gedachte Dialog mit Autoren habe ihm stets geholfen, „gedankliche Ortswechsel“ vorzunehmen. Und durch Aufenthalte in der fiktionalen Welt der Romane habe er sich den Menschen auch während seiner Präsidentschaft verbunden fühlen können.
Literatur, so Obama, „baut Brücken“. Sie erzähle von alternativen Lebensentwürfen und möglichen Sichtweisen, halte die im Wirbel ihrer alltäglichen Geschäftigkeit einander ignorierenden Einzelwesen miteinander im Gespräch. „Wir sind eine Spezies, die sich Geschichten erzählt.“ Und „ich denke, es ist eine sehr wichtige Aufgabe für politische Führer, die bessere Geschichte darüber zu erzählen, was uns Menschen zusammenhält“.
Bleibt die Frage, warum Obama den Amerikanern seine „bessere Geschichte“ am Ende seiner Amtszeit nicht mehr vermitteln konnte, ausgerechnet er, der hochbegabte Rhetoriker, der mitreißende Redner. Warum seine Nacherzählung des amerikanischen Traums nicht mehr verfing, seine Prosa des Pluralismus, der Hoffnung und der Integration, des individuellen Aufstiegs und des kollektiven Zusammenhalts. Oder anders, zugespitzt gefragt: Wie konnte es passieren, dass Obamas komplexer Gesellschaftsroman in der plumpen, dreckigen Short Story seines Nachfolgers Donald Trump aufging?
An vordergründigen Antworten mangelt es nicht. Die sozialen Spannungen in den USA haben sich in den vergangenen Jahren verschärft. Die Ungleichheit wächst. Steuerzahler retten Boni-Banker. Kapitaleinkommen rentieren höher als Lohneinkommen. Das alles sind wirtschaftspolitische Nachrichten, die Unzufriedenheit produzieren. Darüber hinaus aber werfen sie vor allem die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von Obamas „großer Erzählung“ auf: Auf welch wackligen Fundamenten ruht das Realitätsbewusstsein einer liberalen Gesellschaft, die die eigenen, sich selbst schmeichelnden Sinngebungen – Wohlstand für alle, Marktwirtschaft, kulturelle Vielfalt, offene Gesellschaft – so lange segnet, bis sie ihnen zuletzt auf den Leim geht – und Rechtspopulisten leichtes Spiel haben, sie mit radikalem Post-Truth-Trash zu zerstören?
Eine Antwort darauf findet nur, wer sich das Grunddilemma jeder liberalen Gesellschaft vor Augen führt: Sie feiert eine Schwundform von Toleranz, die sich durch schulterzuckende Gleich-Gültigkeit auszeichnet. Und sie marginalisiert alle gemeinschaftlich verpflichtenden Werte. Ein liberaler Staat hat nach Ansicht eines anständigen Liberalen ein moralisch neutraler Staat zu sein. Er hat über die Einhaltung der Gesetze zu wachen, sich aber jedes Urteils über die Lebensart derer, die ihn bilden, zu enthalten. Er ist ein Staat ohne Ideale. Ein Staat, der nicht denkt. Alles ist erlaubt, was nicht verboten ist. Who cares?
Der französische Philosoph Jean-Claude Michéa hat gezeigt, dass das Credo der ethischen Neutralität von Wirtschafts- und Linksliberalen geteilt wird. Während die Wirtschaftsfreunde jedes moralische Sandkorn im Getriebe der liberalen Maschine identifizieren, um es als Hemmnis für die Effizienz eines gut geölten Marktes zu entfernen, sind grünliberale Gleichheitsfreunde in einer Art Parallelbewegung damit beschäftigt, „alle Formen von Diskriminierung und Ausschluss“ zu ahnden. Das unendliche Ziel dieses liberalen Doppelprojekts erschöpft sich in grenzenlosem Wohlstandswachstum – und in einer Gesellschaft, die nicht ruht, bis in ihr das Recht aller auf alles durchgesetzt sein wird.
Die moralische Blindheit des liberalen Staates
Diesem Projekt aber fehlt es ersichtlich an erzählerischem Stoff und narrativer Energie. Zumal dann, wenn es nicht mal mehr herausgefordert wird. Georgi Arbatow, ein Berater von Michail Gorbatschow, hat bereits im Herbst 1989 gewusst, dass der Liberalismus aus sich selbst heraus keinen Sinn zu stiften vermag: „Wir werden Euch etwas Furchtbares antun. Wir werden Euch den Feind nehmen.“
Was Arbatow damit meinte: Der Untergang des Kommunismus bedeutet nicht das „Ende der Geschichte“. Wohl aber, dass der westliche Liberalismus ohne Feindbild nichts Substanzielles über sich zu erzählen weiß, vor allem, dass er das Utopieverlangen der Menschen nicht stillen kann. Gerät dann auch noch die dürre Zentralidee der Zivilisation – der Fortschritt – unter Verdacht, nurmehr ein bloßes, das Alltagsleben vieler Menschen nicht mehr besserndes Fortschreiten zu sein, werden die Orientierungsnöte in der liberalen Gesellschaft leicht zu einer Gefahr: Der untrainierte, von passiver Indifferenz gegenüber dem Anything goes erschlaffte Toleranzmuskel gibt nach – und muckt als Populismus auf.
Natürlich, die narrative Armut des Liberalismus hat zwei gute historische Gründe: Die Aufklärer des 18. und 19. Jahrhunderts arbeiteten im Namen von Vernunft und humaner Selbstemanzipation am Abbau der fiktionalen Überschüsse, die mit dem Christentum im Umlauf waren. Und die Ideologiekritiker des späten 20. Jahrhunderts stellten mit Blick auf die Gräberfelder zweier Weltkriege alle politischen Großerzählungen unter Bann, die versprachen, den Himmel auf Erden zu errichten. Was der Liberalismus im Wege seiner wertvollen Ernüchterungsarbeit aber aus den Augen verloren hat: Es gibt keinen geraden Weg vom Mythos zum Logos, vom Weltgefühl zum Weltverstand – vom (Aber-)Glauben der Überlieferung zur empirischen Gewissheit. Und schon gar nicht löst sich das menschliche Bedürfnis, von einer leitenden Idee getragen zu werden, sein Tun in einem sinnhaften Erzählstrom eingebunden zu wissen, einfach in Luft auf.
Den Denkern der Aufklärung, in denen die Glut der religiösen Moral noch glomm, musste man das nicht erklären. Adam Smith konnte sein Lob auf den Eigensinn nicht ohne Rekurs auf das heilige Gesetz der „unsichtbaren Hand“ singen. Und Johann Wolfgang Goethe schwante Böses mit Blick auf ein Zeitalter, das die literarische Auslegung der Welt zugunsten ihrer zahlenhaften Berechnung unterschlägt. Politisch konkreter wurden Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill, für die eine Freiheit ohne Tugendpflege, Pflichtgefühl und Verantwortung noch schier undenkbar war.
Die junge Bundesrepublik hat dann der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde davor gewarnt, dass die liberale Demokratie auf einen Kanon unbezweifelt geltender Normen angewiesen ist, den sie selbst nicht hervorbringen könne. Böckenförde wusste, dass eine Nation ihr „Grundgesetz“ nicht mit „Verfassungspatriotismus“ beseelen kann. Dass es sich auch bei „Marktwirtschaft“ und „Gewaltenteilung“ um cold projects handelt (Ralf Dahrendorf), um kalte Projekte, die keine emotionale Kraft freisetzen und dem individualistischen Laisser- faire nichts entgegenzustellen haben. Der Wohlstand „hat viele blind dafür gemacht, dass die offene Gesellschaft diese offene Flanke hat“, warnte Joachim Fest 1997: „Sie ist anfällig, ja wehrlos wie keine andere, gegen ihre Feinde.“
Aber ist sie das wirklich? Vielleicht nicht, wenn die Menschen wieder anfingen, sich Geschichten darüber zu erzählen, was unter einem sinnerfüllten Leben zu verstehen sei. Wenn sie wieder darüber stritten, was sich gehört (und was nicht) und warum es einen Unterschied macht, Schiller oder Schätzing zu lesen. Wenn sie wieder eine Identität aus der gemeinsamen Lust an Argument und Widerspruch gewänne statt an gouvernemental gerahmten Schwundformen der Toleranz. Kurzum: Was die liberale Gesellschaft braucht, ist nicht „das richtige“ framing, sondern einen Mythos des Narrativen: eine Schwäche für die vielstimmige Erzählung, in der sie sich wieder und wieder einen Reim auf sich selbst zu machen versucht.