Proteste in der Türkei dauern an
Mit dem Bild einer zunehmend wohlhabenden, modernen und westlichen Türkei haben die Bilder von den Straßenschlachten in Istanbul nichts mehr gemein. Und die marktschreierische Rhetorik, mit der Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan Hunderttausende Anhänger seiner islamistischen Partei begeistert, wirken bestenfalls befremdend, vor allem aber abstoßend. Westliche Journalisten mit ihren angeblichen Lügen als Urheber des grausigen Images, das Erdogans Polizei dem eigenen Land aufdrückt? Unsinn natürlich, genau solcher Unsinn wie die Rede von einer „Banken-Lobby“, welche die Unruhen finanziert hat, um die Aktienkurse in Istanbul und den Kurs der türkischen Lira zu drücken – alles so von Erdogan gesagt oder vielmehr herausgeschrien. Wenn’s stimmt, waren das sicher dieselben Schurken, die 2001 das World Trade Center zerstörten, 2010 die europäische Finanzkrise auslösten und 2013 das Hochwasser in Deutschland. Klingt jedenfalls so.
Länderprofil Türkei
Die 75 Millionen Einwohner der Türkei sind im Schnitt unter 30 Jahre alt und konsumfreudig. Die Einkommen steigen kontinuierlich und mit ihnen der Absatz der Unternehmen.
Die Türkei hat kaum eigene Energiequellen. Energie muss teuer importiert werden. Das treibt das Handelsbilanzdefizit weiter in die Höhe.
Nach der großen Bankenkrise 2001, die zu Zinsen von über 4000 Prozent und einer Abwertung der
Lira um rund 50 Prozent führte, hat die Türkei ihren Bankensektor gründlich reformiert – so gut, dass die Kreditinstitute 2009 das beste Ergebnis in der Geschichte einfuhren.
Zwar hat sich die Inflation von teilweise über 100 Prozent in früheren Jahren deutlich verringert. Mit Raten zwischen sieben und zehn Prozent ist sie aber immer noch hoch.
Die Türkei liegt geografisch günstig: In drei Flugstunden lassen sich in alle Himmelsrichtungen über 1,5 Milliarden Menschen erreichen.
Die überschießende Rhetorik findet ihren Grund nicht in der Dummheit des Redners, sondern in einer Berechnung, die wahrscheinlich sogar funktioniert, leider: Die türkische Gesellschaft ist seit vielen Jahrzehnten gespalten in „weiße Türken“ und „schwarze Türken“, in Fromme und in Verächter der eigenen Religion, Liebhaber der jahrhundertealten Tradition und nach eigenem Urteil moderne Menschen, „Kemalisten“ in der Tradition des Staatsgründers Atatürk und Islamisten mit Sehnsucht nach einer imaginären guten alten Zeit. Wer da vor seinen Anhängern die Gegner schmäht, beleidigt, verleumdet, erntet Jubel und Unterstützung. Und je gewaltsamer er seine Mittel einsetzt, umso größer der Jubel. So einfach ist das leider.
Hinzu kommt , dass Türken aller Couleur das Chaos fürchten, die wirtschaftlich Erfolgreichen ganz besonders. Ein in Westeuropa ausgebildeter Istanbuler Geschäftsmann, erfolgreich mit großen deutschen Unternehmen vernetzt, sehr „weißer“ Türke, der allenfalls als Tourist in Zentralasien mal eine Moschee von innen setzt, überrascht mich am Telefon mit der Mitteilung, Erdogan habe eigentlich Recht. Der politische Wirbelsturm komme nur den Feinden der Türkei zugute, und unter denen seien zumindest die Financiers der Park-Besetzer und Demonstranten zu suchen. Um wen es sich genau handele, könne man freilich nicht sagen.
Eine Verschwörungstheorie ohne Erkenntniswert für die Entstehung der Unruhen, wohl aber für die Folgen. Die Freunde von Ruhe und Ordnung scharen sich um die Regierung. Erdogans guter Ruf ist wohl ruiniert; seine Macht keineswegs.