Gewalt in Gaza Warum die Palästinenser wirklich protestieren

Die neue US-Botschaft in Jerusalem ist für die Palästinenser nur der Anlass zu demonstrieren. Der Grund für den Unmut liegt woanders.

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Tel Aviv Die Bilder gingen um die Welt: Umhüllt von schwarzem Rauch laufen tausende Menschen über ein staubiges Feld Richtung Stacheldrahtzaun. Er markiert die Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel.

Auf der anderen Seite stehen israelische Soldaten, die den Ansturm abwehren sollen. Sie schießen scharf – was Israel mit dem Recht auf Selbstverteidigung begründet. Über 60 Palästinenser sterben. Der 70. Jahrestag der Staatsgründung Israels wurde für die Palästinenser zum blutigsten Tag seit dem Gaza-Krieg 2014.

Vor der amerikanischen Botschaft in Jerusalem, die an diesem Tag eingeweiht wird, bleibt es hingegen erstaunlich ruhig. Wenige hundert Demonstranten haben sich vor dem Gebäude versammelt – Israelis und Palästinenser. Auch im Westjordanland geht kaum jemand auf die Straße. Das ändert sich nicht einmal, als der palästinensische Präsident Machmud Abbas seine Landsleute aufruft, am nächsten Tag aus Protest gegen die Schüsse bei Gaza aufzumarschieren und einen „Tag nationaler Trauer“ zu begehen.

Weniger als 2000 Menschen demonstrieren am 15. Mai im von Israel besetzten Westjordanland und in Ostjerusalem. Dabei ist es der Tag der „Nakba“, der Katastrophe, mit dem die Palästinenser jährlich an ihre Flucht und Vertreibung im Jahr der israelischen Staatsgründung 1948 erinnern.

Warum waren die Menschen in Gaza bereit, ihr Leben zu riskieren, indem sie auf eine Grenze zuliefen, an der bereits seit Wochen scharf geschossen wird? Und warum trieb die Menschen im Westjordanland nicht einmal ein Trauermarsch auf die Straße?

Gaza ist ein Gefängnis

Adnan Abu-Hasna arbeitet in Gaza für das Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge und ihre Nachfahren, kurz UNRWA. Er sagt: „Die Menschen hier haben nichts zu verlieren.“

Seit mehr als einem Jahrzehnt leben die Menschen in dem 40 Kilometer langen Küstenstreifen unter einer weitgehenden Blockade. Damals, 2006, gewann die islamistische Hamas in Gaza die Wahlen. Die Partei spricht Israel nach wie vor das Existenzrecht ab und feuert immer wieder Raketen in das Nachbarland. In den Tagen nach den Protesten versuchte sie mit Maschinengewehren, die Gegner zu treffen.

Israel und – später auch Ägypten – schlossen ihre Grenzen und begründeten dies mit Sicherheitsbedenken. Über den israelischen Grenzübergang Kerem Shalom gelangen zwar Waren nach Gaza, doch sie unterliegen Restriktionen. Das verarbeitende Gewerbe liegt seither so gut wie brach. Auch der Bausektor ist betroffen. Beton wird kaum hineingelassen – aus Sorge, die Hamas könne damit Tunnel für Terroristen abstützen. Vor allem aber darf Gaza kaum etwas exportieren, und auch keinen Handel mit dem Westjordanland betreiben. Zumindest für den Fastenmonat Ramadan soll die Grenze nach Ägypten nun wieder geöffnet sein.

Den Gazastreifen verlassen können die Menschen nur mit Sondergenehmigungen. Im vergangenen Jahr taten dies nach Angaben der UNRWA 9100, die meisten aus gesundheitlichen Gründen. „Ein Gazaner hat also alle 200 Jahre die Chance, diesen Ort zu verlassen“, sagt Abu-Hasna. Rund zwei Millionen Menschen leben im Gazastreifen. „Es ist ein Gefängnis.“

Jeder zweite Gazaner ist arbeitslos. Bei den 20- bis 24-Jährigen liegt die Arbeitslosenquote gar bei 68 Prozent. In den vergangen Monaten hat sich die Lage noch einmal zugespitzt. Denn Machhmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), kürzte vielen PA-Angestellten in Gaza die Gehälter. Mehr noch: Im Machtkampf mit der Hamas bat Abbas Israel, die Stromzufuhr für Gaza zu drosseln. Inzwischen gibt es nur noch rund vier Stunden Elektrizität am Tag.

Der einzige Sektor, der in Gaza noch funktioniere, seien die Hilfsorganisationen, sagt Abu-Hasna von der UNRWA. Noch, denn im Januar erklärte US-Präsident Trump, die Hilfsgelder für die UNRWA von 125 Millionen auf 60 Millionen zu kürzen. Die restlichen 65 Millionen würden zurückgehalten, bis die Palästinenser bereit seien, mit Israel über einen Frieden zu verhandeln. Die UNRWA beschäftigt 13.000 Mitarbeiter, sie versorgt mehr als eine Million Menschen täglich mit Lebensmitteln, betreibt 252 Schulen und 22 Krankenhäuser.

Die Weltbank warnte im April, sollte sich die Finanzierungslücke bei der UNRWA nicht wieder schließen, könne dies zu einer weiteren massiven Verschlechterung der Situation der Menschen in Gaza führen. Die Organisation selbst warnt vor einer Hungersnot.

Eine andere Welt im Westjordanland

Auch im Westjordanland leben die Menschen hinter einem Zaun, in Teilen gar hinter einer Mauer, die Israel nach eigenen Angaben errichtet hat, um Terroristen abzuhalten. Doch anders als in Gaza, kann zumindest ein beträchtlicher Teil der Palästinenser das Gebiet verlassen. Mehr als 100.000 der knapp drei Millionen Palästinenser, die hier leben, arbeiten in Israel, weitere 30.000 in israelischen Siedlungen, die auf besetztem palästinensischem Gebiet errichtet wurden. Das sind 19 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung. Die Arbeitslosenquote liegt hier deutlich niedriger als in Gaza: bei 13 Prozent. Viele Straßen sind neu asphaltiert, im Gegensatz zu den Staubwegen in Gaza. Immer wieder sieht man neu gebaute Häuser. In den letzten zehn Jahren hat das Westjordanland einen regelrechten Bauboom erlebt.

„Der Schein trügt“, sagt Marc Frings von der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Ramallah. Viele der Häuser, die man im Speckgürtel rund um Ramallah und Bethlehem sehe, seien nicht abbezahlt. Laut Bloomberg beträgt der private Schuldenstand der Palästinenser im Westjordanland 2,6 Milliarden Dollar.

Das Durchschnittgehalt im Westjordanland liegt bei 3000 Shekel, rund 700 Euro. Im Vergleich zu Israel ist das wenig. Im Vergleich zum Gazastreifen ist es enorm viel. Selbst in den Flüchtlingslagern, wo die Menschen oft unterhalb der Armutsgrenze leben, hat das humanitäre Elend längst nicht das Niveau von Gaza erreicht.

Neue Strategie der Hamas

„Die Menschen hier haben zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben“, sagt Marc Frings. Viele seien frustriert, vor allem über die eigene politische Führung, die seit Jahrzehnten keine Erfolge gegenüber den Israelis vorzuweisen hat. Sie sehen, wie rund um ihre Städte und Dörfer israelische Siedlungen immer weiter ausgebaut werden. Und doch sehen sie mit Blick auf Gaza: Es könnte schlimmer kommen.

„Der Leidensdruck ist nicht groß genug“, sagt Frings. Statt auf die Straße zu gehen, zögen sich die Menschen ins Private zurück. „Wir erleben hier gerade eine Art palästinensischen Biedermeier.“ Doch der Leiter der KAS in Ramallah hat noch eine weitere These, weshalb die Proteste im Westjordanland ausblieben, während sie in Gaza explodierten. Seit Jahren unterbinde die Fatah öffentliche Demonstrationen – aus Sorge, diese könnten sich nicht mehr nur gen Israel richten, sondern auch nach innen, gegen die eigene Führung.

Die Hamas hat offensichtlich eine andere, neue Strategie. Seit März gibt es Proteste entlang der Grenze zwischen Gaza und Israel – organisiert von zivilgesellschaftlichen Gruppen. Anders als erwartet unterband die Hamas diese jedoch nicht, sondern unterstützte sie – und setzte sich schließlich an ihre Spitze. So gelang es der Hamas, die Wut der Menschen zu kanalisieren – in Richtung Israel. „Dies ist beängstigend“, sagt Frings, „denn es könnte dazu führen, dass die Hamas bald wieder größeren Rückhalt in der Bevölkerung genießt“.

Eine Besserung der Situation in Gaza ist nur möglich, so sehen es viele Analysten, wenn die Grenzen geöffnet werden. „Die Wirtschaft kann sich nur entwickeln, wenn die Leute rauskönnen. Arbeitsgenehmigungen auszustellen wäre eine vertrauensbildende Maßnahme, die Israel leisten könnte“, sagt Frings. „Solange sich nichts an der politischen und wirtschaftlichen Situation der Menschen im Gazastreifen ändert“, sagt Abu-Hasna von der UNRWA, „werden die Proteste wiederkommen.“

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