Amerika hat seine Rassenunruhen zurück. Man reibt sich die Augen und merkt, dass der Traum von Martin Luther King ausgeträumt ist.
Ein Präsident schwarzer Hautfarbe in den Vereinigten Staaten, vor acht Jahren als jüngster Triumph der Rassengleichheit gefeiert, konnte höchstens kaschieren, welche Probleme das Land der unbegrenzten Möglichkeiten seinen Kindern nicht-weißer Hautfarbe immer noch bereitet.
Die Frage ist angesichts der Toten, der Unruhen, der Demonstrationen, ob es eine Gleichberechtigung der Rassen im Amerika nach Martin Luther King und seinen Weggefährten überhaupt je gegeben hat. Die Antwort fällt ernüchternd aus: Schon in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat der Journalist Bill Dedman rassistische Benachteiligungen aufgedeckt und publiziert. Sein Thema war das so genannten red-lining. Darunter versteht man, dass bestimmte Dienstleistungen bestimmten Bevölkerungsgruppen vorenthalten werden. Seine Recherche-Ergebnisse, die mit einem Pulitzer-Preis gewürdigt wurden, waren so einfach wie erschreckend. Beispiel Kredite: Banken haben demnach weißen US-Amerikanern mit geringem Einkommen häufiger Kredite gegeben, als schwarzen US-Amerikanern mit mittleren und hohen Einkommen.
Wie viele weiße Amerikaner mögen aufgrund dieser Banken-Praxis einen Hauskredit bekommen haben, den sie nicht haben abtragen können? Und wie vielen schwarzen US-Amerikanern wurde eben dieser Kredit über Jahrzehnte verwehrt, obwohl sie ihn wirtschaftlich hätten schultern können? Der volkswirtschaftliche Schaden, den dieses red-lining anrichtet, mag immens sein, moralisch ist diese Praxis mehr – sie ist eine Kapitulation. Die Benachteiligung in Sachen Wohnraum hat bei der Kreditvergabe kein Ende: Wer einmal als schwarzer US-Amerikaner seine Wohnung gekündigt bekommt, der hat Schwierigkeiten, wieder eine neue zu finden. Auf diese Weise wird ein Unterschichten-Dasein zementiert, wie eine jüngst im New Yorker erschienene Reportage zeigt. Der amerikanische Traum, er gilt vor allem für Weiße. Ein Schwarzer kann froh sein, wenn er seinen Job als Tellerwäscher behält – zu einem kleinen Stundenlohn versteht sich.
Die Gewaltspirale kommt in Gang
Das perfide an Praktiken wie dem red-linig ist, dass gut meinende, nicht rassistische weiße Amerikaner sie nicht mitbekommen. Deshalb scheinen Millionen Amerikaner von dem Ausmaß der jüngsten Ausschreitungen überrascht zu sein. Manche nennen dies reverse-racism.
Aber das verfängt nicht, denn die von der Polizei erschossenen Menschen sind nur ein Aspekt. Ein anderer ist die Gegen-Gewalt, die wir vergangene Woche in Dallas erlebet haben, als ein Heckenschütze fünf Polizisten ermordete. Diese Morde aus dem Hinterhalt waren besonders heimtückisch und niederträchtig, verabscheuungswürdig und nicht hinnehmbar. Und so beginnt die Spirale, deren Ende im Moment nicht in Sicht ist. Auch über die Vermeidung weiterer Eskalation streiten die Gelehrten. Wie ausbrechen aus einem Kreislauf von Gewalt?
Wie bei vielen Problemen in der US-Gesellschaft geht der Blick auf die Waffen, die frei verfügbar sind und die jeden Konflikt zur Eskalation treiben. In den Vereinigten Staaten wird im November gewählt und Donald Trumps Position zum Waffenrecht ist in etwa so zielführend wie der Auftrag, mit einem Sieb Wasser aus dem See zu holen. Trump ist überzeugt, die Amerikaner sollten möglichst viele Waffen haben, um auf Angreifer schießen zu können. Dabei müssten die USA ihre Waffengesetze ändern, anderenfalls ufern die Konflikte, denen sich die Gesellschaft ausgesetzt sieht, noch weiter aus.
Dem Rassen-Konflikt wird auf diese Weise nicht beizukommen sein. Aus der rassischen Benachteiligung ist längst auch eine Klassen-Benachteiligung geworden. Die beiden bedingen einander, aber die wirtschaftliche Benachteiligung gäbe es ohne rassistische Vorurteile und den Hass nicht. Die soziale Benachteiligung und Isolation ist allumfassend. Sie erfasst alle Bereiche des Lebens und spiegeln sich nur schlecht in Datensätzen, die Rahmendaten von Bevölkerungen zeigen. Aber egal, auf welche Studie man schaut, das Ergebnis vernichtend: das Durchschnittseinkommen in schwarzen Haushalten liegt unter dem von Weißen, der "Wealth", also Besitz, ebenfalls. Hieran wird besonders deutlich, dass der Traum vom Tellerwäscher zum Millionär nicht für schwarze Mitbürger gilt. Er geht so weit, dass unbescholtene schwarze US-Bürger weniger häufig einen Job bekommen als weiße, die bereits einmal eines Verbrechens überführt wurden.
Benachteiligung treffen auch Mexikaner und Homosexuelle
Trauriges Fanal der Benachteiligung nach Wohnort und Einkommen (und damit nach Rasse), und auch versteckte Ankündigung dessen, was sich dieser Tage zeigt, war im Gefolge des Hurrikan Katrina zu sehen: die Gebiete, in denen Weiße wohnten, wurden besser versorgt und den Menschen geholfen, die schwarze Bevölkerung musste im Stadion ausharren. Als wäre das noch nicht genug, haben Teile des weißen Amerika schon den nächsten Gegner im Visier: die Mexikaner. Donald Trumps Rhetorik wird nicht zurückgewiesen, sondern durch hohe Vorwahlergebnisse bestätigt. Und auch den Homosexuellen im Land geht es nicht besonders gut. In verschiedenen Bundesstaaten gibt es Gesetze, wonach Geschäftsinhaber und Hoteliers homosexuelle Menschen aufgrund ihrer religiösen Überzeugung zurückweisen dürfen. Red-Lining für Schwule und Lesben.
Die Vereinigten Staaten haben in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder bewiesen, dass sie sich neu erfinden können. Sie mögen sich daran erinnern, denn die neuen Herausforderungen, die auf das Land zurollen, sind immens. Der Präsidentschaftswahlkampf spaltet die zudem. Sollte der Wille des Volkes auf Donald Trump fallen – nicht auszudenken, was diese Manifestation des rassistischen Ressentiments der US- und der Weltwirtschaft antun würde.