Görlachs Gedanken
Quelle: REUTERS

Nationale Alleingänge bringen keine Lösung

In vielen Ländern gingen in den vergangenen Tagen Millionen auf die Straßen. Sie protestieren gegen Ungleichheit. In Deutschland haben wir noch keine Proteste, aber auch das mag eine Frage der Zeit sein.

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In vielen Weltregionen sind in den vergangenen Tagen Millionen von Menschen auf die Straßen gegangen. Sie protestieren gegen die ungleiche Verteilung von Gütern in ihren Ländern. Wie ein Lauffeuer verbreiten sich diese Tumulte, die, wenngleich die Umstände in jedem Land andere sind, im Kern doch dem gleichen Schema folgen. Im Libanon wehren sich Menschen gegen eine WhatsApp-Steuer, eine tägliche Abgabe für die Nutzung bestimmter Social-Media-Dienste. In Chile gehen die Menschen wegen der immensen Lebenshaltungskosten auf die Straße, in Ecuador wegen steigender Benzinpreise. Das erinnert stark an die Gelbwesten-Proteste in Frankreich, die ebenfalls nach der Ankündigung, Steuern auf Sprit zu erhöhen, losgebrochen waren.

In Hongkong dauern die Proteste an, auch hier geht es unter anderem auch um zu hohe Lebenshaltungskosten; vor allem um die Mieten, die in der Finanzmetropole zu den höchsten der Welt gehören. Einzig die Proteste in der spanischen Provinz Katalonien haben andere Gründe, obwohl man im Kern auch argumentieren könnte, dass es den Katalanen am Anfang ihrer Unabhängigkeitsbestrebungen darum gegangen war, die Abgaben, die die prosperierende Provinz an den Zentralstaat zu zahlen hat – etwa vergleichbar mit dem deutschen Länderfinanzausgleich – zu reduzieren.



In Deutschland haben wir noch keine Proteste, aber auch das mag eine Frage der Zeit sein, denn auch hierzulande können sich immer weniger Menschen Wohnraum leisten, sei es zur Miete oder als Eigentum. Keine Woche vergeht, in der die, man muss es doch sagen, unfähige Berliner Senatsregierung mit ideologischer Verblendung ein Problem aus der Welt zu schaffen sucht, dass sie selbst (und ihre Vorgänger) verursacht hat.

Der Silberstreif am Horizont ist: wenn die Gründe für die Proteste vergleichbar sind, dann ist die Lösung der ihnen zugrunde liegenden Probleme auch eine vergleichbare. Und die Analyse des Problems oder der Probleme kann ebenfalls durch den Vergleich mit anderen Ländern erleichtert werden. Wenn es um die eigene Heimat geht, sieht man vor lauter Bäumen den Wald nicht. Der Blick über den Zaun in andere Weltgegenden mag doch helfen, das Muster besser zu erkennen.

Das macht allerdings erst einmal wenig Mut: das Auseinanderdriften von Gewinnern der Globalisierung und ihren Verlierern tritt immer deutlicher zutage. Es ist ein globales Phänomen. Der nun folgenden Kritik muss man vorausschicken, dass die Globalisierung hunderte Millionen Menschen (in China vor allem) aus der Armut befreit und Mittelschichten in Ländern wie Chile erst ermöglicht hat. Heute geht es Angehörigen der Mittelschicht in vielen Ländern besser als der Aristokratie, dem einen Prozent an der Spitze, in Zeiten des Absolutismus. Ungleichheit, so sagt die „Theorie der Gerechtigkeit“ des Harvard-Politologen John Rawls, ist nur dann zu dulden, wenn durch sie ein besseres Leben für die größtmögliche Zahl ermöglicht wird. Das ist der Globalisierung gelungen. Gleichzeitig hat sie diejenigen, die in diesem Zeitalter nicht punkten konnten, schneller und umfassender abgehängt, als es die Erfolgende erzielt wurden, als wahrscheinlich erscheinen ließen.

Die US-amerikanische Gesellschaft, in die der Wissenschaftler im vergangenen Jahrhundert hineingesprochen hat, hat bis vor Kurzem Ungleichheit deshalb akzeptiert, weil es in der Immigrationsgesellschaft Wege gab, vom Tellerwäscher zum Millionär zu werden. Diese meritokratischen Aufstiegschancen gibt es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nicht mehr und so sind auch hier Protestbewegungen wie die „Tea Party“ oder die „Make America Great again“-Bewegung der bestimmende Faktor in der öffentlichen Debatte geworden. Übrigens auch auf der Seite der Demokratischen Partei, deren potenzielle Kandidaten für den Präsidentschaftswahlkampf im kommenden Jahr alle über Konzepte nachdenken wie ein universelles Grundeinkommen oder wie man die drückende Last der Ausbildungskredite für die junge und mittlere Generation ausheben kann. Selbst das Mutterland einer positiven, utopischen und kapitalistischen Weltsicht windet sich in einer umfassenden Depression.

Wie kann ein Ausweg aus dem Dilemma aussehen? Die Frage, die sich Gesellschaften überall auf der Welt gerade stellen ist: wie kann uns Teilhabe gelingen? Teilhabe unter den Vorzeichen der Endlichkeit der Ressourcen der Erde. Teilhabe unter der Maßgabe, dass nicht mehr menschliche Arbeit der Treiber für steigende Effizienz und damit in Konsequenz für höhere Einkommen ist? Trinkwasser, saubere Luft, öffentliche Infrastruktur, Bildung und Gesundheit, Internet überall auf der Welt sind es dieselben Forderungen, die die Menschen haben. Letztendlich sind es diese genannten, die es Menschen ermöglichen, soziale Rollen in der Öffentlichkeit wahrzunehmen.

Nur wenn das möglich ist, können Menschen ein würdevolles Leben führen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass sehr oft die Gewinner der Globalisierung ihre Verlierer übersehen und damit entwürdigen. Überall auf der Welt wird die Systemfrage gestellt. Nationale Alleingänge werden hier keine Lösung bringen. Die Weltgemeinschaft muss sich der Frage stellen, was sie möchte und wie sie diese Ziele erreichen kann. Ein Ziel bis zum Jahr 2030 muss daher sein, diese aufgelisteten Basisgüter der Welt für alle Menschen in nachhaltiger Weise zugänglich zu machen. Ganz gleich, wo sie auf der Erde leben.

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