Görlachs Gedanken
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte kurz nach dem Brand angekündigt, die Notre Dame innerhalb von fünf Jahren wiederaufzubauen – und zwar schöner als zuvor. Quelle: AP

Notre-Dame-Feuer gibt den Neidern Futter

Die Neiddebatte ist zurück, in einem anderen Kleid und mit einem anderen Anlass. Dabei bleibt sie eine Variation der mittlerweile leider eingespielten und bekannten Weise des „Wir gegen die“.

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Die Milliardäre, die sich entschlossen haben, mit beträchtlichen Summen die Kathedrale Notre Dame in Paris wieder aufzubauen, finden sich in der Rolle der Schuldigen wieder, die – anstelle die Armut und den Hunger auf der Welt zu beenden – lieber ein altes Haus wieder aufbauen.

Was ist das für eine Debatte? Äpfel, so haben wir gelernt, lassen sich schließlich nicht mit Birnen vergleichen. Die Besonnenen in der Diskussions-Arena sagen deshalb auch, dass es ja kein entweder oder sei – der Wiederaufbau der Kirche und die Bekämpfung der Armut. Das klingt versöhnlich, ist es aber nicht, denn in dem Maße, in dem Dinge miteinander verglichen werden, die dafür nicht taugen, nimmt die Polarisierung in einer Gesellschaft zu. Zudem wird die Praxis, wie man einen Diskurs und eine Debatte führt, verwässert, bis sie am Ende verlernt ist. Auf diesem Weg sind viele Gesellschaften bereits. Und die neueste Variation der Neid-Debatte geht an die Fundamente unserer Diskurskultur, deren hegendes Dach schon lange von den Eiferern angezündet wurde.

Lassen Sie mich versuchen, dem Thema gerecht zu werden: Beiden Debatten geht es um den Menschen. Das ist das Verbindende. Die eine spricht von den Menschen, die heute in Armut leben. Das Ziel des Diskurses ist es, soziale Gerechtigkeit herzustellen. Die andere Debatte spricht von den Menschen, die einmal gelebt haben, und die uns ihr Erbe mit auf den Weg gegeben haben. Das Ziel dieser Debatte ist es, mit der Vergangenheit zu leben und von ihr zu lernen.

Menschen gegen Menschen auszuspielen ist das gefährliche Spiel der Eiferer, die wir heute, viel zu zahm, Populisten nennen: „die da oben“ gegen „die da unten“, „die Eliten“ gegen „die einfachen Leute“, „die Reichen“ gegen die Armen. Die Debatte um Notre Dame hat den Kreis nun noch einmal weiter gezogen: Die Menschen, die heute leben, gegen die, die einmal gelebt haben. Dabei sind wir Menschen geschichtliche Wesen, Kreaturen, die mit dem Wissen, um die Zeit und unsere Vergänglichkeit, leben. Weil das so ist, sorgen wir uns (jedenfalls etliche von uns) um den Wiederaufbau von Notre Dame. Wir sorgen uns damit um die Vergangenheit genauso, wie wir uns um den Klimaschutz sorgen, der in die Zukunft weist, und um die soziale Gerechtigkeit, die eine Sorge der Gegenwart ist.

Vergangene Menschengeschlechter sind für uns ebenso wichtig, wie die, die noch kommen werden, weil wir in diesem Zusammenhang stehen, der uns ständig zum Bewahren und zum Erneuern zwingt. Die Gegenwart ist jeweils das Zwiegespräch, mit dem was war, und dem, was kommen wird.

Dabei wird das Gewesene nie statisch betrachtet: Geschichte ist dergestalt im Wandel, als dass die jeweils Heutigen anderes aus der Vergangenheit erfragen und lernen wollen als andere Generationen. Die Frage, wie nun Notre Dame wieder aufzubauen sei, spiegelt das: Soll es historisch sein (in dem Wissen, dass selbst der abgebrannte Vierungsturm seinerseits bereits eine historisierende Adaption, ein Zwiegespräch einer gewesenen Gegenwart mit der langen Vergangenheit des Gotteshauses war) oder soll der Wiederaufbau die Gegenwart spiegeln und Zeitgenössisches aufnehmen?

Europas bedeutendste Monumente
Notre-Dame war bis zur jetzigen Brandkatastrophe mit 13 Millionen Besuchern jährlich das wichtigste Tourismusmonument Europas. Quelle: imago images
Der Louvre landet mit 10,2 Millionen Besuchern auf Platz zwei der meistbesuchten Monumenten Europas. Quelle: imago images
Trotz des kostenlosen Eintritts in den Petersdom verdient der Vatikan etwa 100 Millionen über Eintrittsgelder für das Vatikanmuseum und die Sixtinische Kapelle. Quelle: imago images
Das Lustschloss Versailles bringt es über Ticketverkäufe im Jahr auf etwa 52 Millionen Euro. Quelle: imago images
Das etwa 75 nach Christus erbaute Kolosseum in Rom zählt zu den wichtigsten Monumenten der Stadt. Die Einnahmen liegen dabei bei 35 Millionen Euro. Quelle: imago images
Michelangelos Sixtinische Kapelle als Teil des Vatikanmuseums ist eine wichtige Einnahmequelle des Kirchenstaates. Quelle: imago images
Der Eiffelturm ist das bekannteste Monument Europas und erzielt jährlich 70 Millionen Euro Umsatz. Quelle: imago images

Warum sind einige so rigoros in ihrem Urteil, dass sie selbst das Vergangene in die Neid-Debatten der Gegenwart einbeziehen? Neid, so sagt der französische Philosoph Rene Girard, tritt auf in Zeiten von Verknappung der Ressourcen, in Momenten, in denen das ökonomische Geschick von Gruppen unsicher ist. Wir leben in einer solchen Zeit. Der Neid führt am Ende dazu, so Girard, dass ein Sündenbock gefunden werden muss, der all das Negative personifiziert: Im Pariser Fall sind es die reichen Franzosen, die Geld geben, um die Kirche wieder aufzubauen. Während dieser Debatte hungern allerdings die Armen weiter und Notre Dame bleibt ohne Dach. Keines der drängenden Probleme wird gelöst, wenn man die ranlässt, die Äpfel mit Birnen vergleichen.

Die Eiferer aller Zeiten – auch hier hilft der Blick ins Geschichtsbuch – haben sich für die Armen so wenig interessiert wie für die Vergangenheit. Sie sehen sich als die Personifikation des Volkes und die Geschichte als Prozess, der auf sie als Kulminationspunkt zuläuft. Genauso führen die Eiferer unserer Tage ihre Debatten: die Klimaretter genauso wie die Konsumkritiker, genauso wie die Einwanderungshasser und die Nationalisten. Es geht ihnen am Ende um sich selber und nicht um die Mitmenschen.

An der wiederaufgebauten Kathedrale Notre Dame hingegen werden sich bis zum Jüngsten Tag die Menschen aus der ganzen Welt erfreuen und in den gotischen Proportionen von Himmel und Erde spiegeln und verorten können. Notre Dame ist ein währendes Zeichen des Trostes in einer polarisierten Welt.

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