Großbritannien Labour kneift in der Brexit-Frage

Viele EU-Anhänger in Großbritannien erhoffen sich von der erstarkten Labour Party Schwung für einen „Exit vom Brexit“. Die Oppositionspartei um Jeremy Corbyn ist in der Frage jedoch gespalten und gibt sich zurückhaltend.

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Die Arbeitspartei zögert, Stellung zu beziehen. Quelle: Reuters

Brighton Ben Asson legte 200 Meilen, rund 320 Kilometer, zurück und übernachtete im Auto, um seine Botschaft persönlich zu übermitteln: „Komm endlich in Gang, JC!“ reckte er Labour-Chef Jeremy Corbyn auf einem handgeschriebenen Schild seine Forderung entgegen. „Hör auf mit dem Herumgeeiere. Setz dich für unsere EU-Rechte ein.“

Vor dem Konferenzgebäude in Brighton, wo die britische Arbeitspartei derzeit ihr Jahrestreffen hält, ruft Asson Corbyn und seiner Labour Party zu mehr Engagement für Europa und zu einer klaren Positionierung gegen den Brexit auf. „Der Brexit ist die größte Frage“, sagt der Brauer aus Wales, der sich ein neues Referendum über den EU-Austritt wünscht. Hier müsse endlich Bewegung her, meint er. „Alles andere ist, wie Liegestühle auf der Titanic hin und her zu schieben.“

Immerhin waren es rund 48 Prozent der Briten, die sich im Juni vergangenen Jahres für den Verbleib in der EU aussprachen. Viele von ihnen hegen nun die Hoffnung, dass die inzwischen erstarkte oppositionelle Labour Party den Brexit noch stoppen oder zumindest entschärfen könnte. Hunderte Demonstranten zogen auch am Sonntag in Brighton auf und forderten vor dem Konferenzzentrum ein Eintreten für einen „Exit vom Brexit“.

Die Arbeitspartei aber gibt sich zurückhaltend und zögert, Stellung zu beziehen. EU-Befürwortern innerhalb der Partei gelang es nicht, ein Votum über die Brexit-Politik auf die Agenda des Treffens zu bringen. Es müsse „noch etwas mehr Konsens“ erzielt werden, bevor eine Entscheidung getroffen werden könne, erklärte Labour-Finanzexperte John McDonnell am Montag. Nicht nur bei Ben Asson und Co., sondern auch in Teilen der Partei stößt das auf scharfe Kritik.

Labour mache sich mit der Ausweichtaktik zur Lachnummer, sagt etwa die Abgeordnete Heidi Alexander. Der Brexit-Streit überschattet eine Konferenz, die von Optimismus geprägt sein sollte. Hat doch Labour bei den vorgezogenen Neuwahlen im Juni überraschend zugelegt und Premierministerin Theresa May mit ihren Konservativen in eine Minderheitsregierung gedrängt. Die traditionellen Labour-Forderungen wie Verstaatlichung von Eisenbahnen oder kostenloses Schulessen überzeugten viele Briten, die den jahrelangen Sparkurs der Konservativen leid sind.

Der 68-jährige Jeremy Corbin bekam neuen Rückenwind. Er wurde für viele in der wachsenden und zunehmend jungen Labour-Mitgliederschar zum Helden. Wenn er auf Kundgebungen auftaucht, wird der bärtige Alt-Sozialist mit Jubelgesängen begrüßt: „Oh, Jeremy Corbyn“ wird ihm nach der Melodie von „Seven Nation Army“ der White Stripes entgegengeschmettert. Viele an der Basis haben das Gefühl, Corbyn habe ihnen ihre Partei zurückgegeben - nach Jahren geglätteter, zentristischer „New Labour“-Politik unter Tony Blair und dessen Nachfolger.

„Das hat sich stark an Anzugträger gerichtet“, meint der Konferenzdelegierte Andrew Ward. Der Mann mit Kilt, rotem Labour-T-Shirt und mehreren Piercings begrüßt die Neuausrichtung: „Das ist jetzt nicht mehr so. Jetzt sind auch junge Leute eingeschlossen. Es ist für alle.“ Seine Begeisterung überträgt sich indes durchaus nicht auf alle. Der neue Kurs Labours ist nicht unumstritten - und Corbyns Haltung zur EU ist eben einer der Knackpunkte.

In den 70er Jahren war Corbyn gegen den EU-Beitritt Großbritanniens, beim Referendum im vergangenen Jahr trat er nur halbherzig für einen Verbleib ein. Selbst die Forderung nach einem Festhalten am gemeinsamem Markt und Zollunion trifft nicht durchweg auf offene Ohren. Corbyn hat angekündigt, eine Labour-Regierung würde die Einwanderung einschränken, und gewarnt, ein Verbleib im Binnenmarkt könnte zu sehr einengen. EU-Befürworter in der Partei fürchten, dass Labour seine internationalistischen Prinzipien verrät.

Europäer fühlten sich in Großbritannien zunehmend unwillkommen, bemängelt die Abgeordnete Seema Malhotra. Das sei „eine schändliche Botschaft, die wir hier schicken“. Auch die Kosten des Brexit würden falsch dargestellt, sagt sie und berichtet von Folgen des Abwanderns der Festland-Europäer: „Im Krankenhaus meines Heimatortes sind mittlerweile 15 Prozent der Ärzte- und Pflegestellen nicht besetzt.“

Die vage Haltung Labours scheint indes pragmatischen Überlegungen geschuldet. Wähler beider Lager sollen nicht abgeschreckt werden, während man die Entwicklung der Brexit-Verhandlungen abwartet. „Ich hoffe, dass es Neuwahlen gibt, bevor diese Verhandlungen abgeschlossen sind“, erklärt der Brexit-Sprecher der Arbeitspartei, Keir Starmer. „Dann können wir die Verhandlungen übernehmen und für das Verhältnis zu Europa kämpfen, an das wir glauben.“ Wie das aussehen soll, bleibt abzuwarten.

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