Großbritanniens Energiekrise Britischen Versorgern droht die Pleitewelle

Gaszähler aus Großbritannien. Quelle: imago images

Die rasant steigenden Energiepreise haben in Großbritannien für eine Krise gesorgt, die durch den Brexit noch verschärft wird. Die Regierung von Boris Johnson ist dazu gezwungen, einzugreifen – mit teuren Mitteln.

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Boris Johnson wollte keinen Zweifel daran lassen, wie sehr die Briten finanziell vom Brexit profitieren würden. Zum Beispiel bei den Energiepreisen. In einem Artikel in Rupert Murdochs Revolverblatt „The Sun“ versprach Johnson, gemeinsam mit den anderen führenden Köpfen der Vote-Leave-Kampagne: „Die Kraftstoffkosten werden (nach dem EU-Austritt) für alle niedriger ausfallen.“ Erreicht werden sollte das unter anderem durch die Abschaffung der Mehrwertsteuer für Kraftstoffe. Bezahlen werde man das mit den Einsparungen bei den EU-Mitgliedsbeiträgen, die man nach dem Brexit ja nicht mehr nach Brüssel überweisen müsse. Das war im Mai 2016, einen Monat vor dem EU-Referendum.

Heute dürfte der britische Premier sein Versprechen von damals bereuen. Denn derzeit kommen auf Millionen britischer Haushalte stark gestiegene Strom- und Gasrechnungen zu. Die meisten kleineren Energieanbieter des Landes könnten schon in Kürze kollabieren. Wegen der hohen Energiepreise wird derzeit auch industriell gefertigtes CO2 knapp, auf das zahlreiche Wirtschaftszweige angewiesen sind. Der Brexit scheint das Problem zu verschärfen.

In Großbritannien hat eine Verkettung von Umständen und folgenschweren Entscheidungen der Vergangenheit dafür gesorgt, dass die rasant steigenden Energiepreise dem Land eine echte Krise beschert haben. So erzeugt der Energiesektor des Landes mehr als die Hälfte des Stroms mit Gaskraftwerken. Die Nachfrage ist in diesem Jahr zusätzlich gestiegen, weil wegen eines ungewohnt windarmen Sommers die Produktion von Windenergie geringer ausfiel als erwartet. Mehrere der veralteten Atomkraftwerke des Landes mussten in den vergangenen Wochen zeitweise vom Netz gehen, nachdem Schwierigkeiten aufgetreten waren. Und zusätzlich gab es vergangene Woche einen Brand innerhalb der Infrastruktur, die das britische Stromnetz mit dem französischen verbindet. Das trieb derzeit die Strompreise zusätzlich in die Höhe.

Da mehr als drei Viertel aller britischen Haushalte mit Gas heizen, ist die Nachfrage ohnehin über die Wintermonate sehr hoch. Was die Gaspreise derzeit zusätzlich treibt: Großbritannien ist heute Netto-Energieimporteur, verfügt aber seit der Schließung eines großen Gasspeichers in der Nordsee 2017 selbst nur über geringe Speicherkapazitäten. Viele europäische Staaten legen in den Sommermonaten, wenn Gas billig ist, zehn bis 20 Prozent ihres jährlichen Bedarfs in Speichern an. In Großbritannien sind es weniger als zwei Prozent. Auch deswegen wirken sich Preisschwankungen verstärkt aus.

Zudem hat Großbritannien mit dem Brexit zum Jahreswechsel auch den europäischen Energiebinnenmarkt verlassen und nimmt nicht mehr am so genannten Market-Coupling teil, das den Preis von grenzübergreifend gehandeltem Strom innerhalb Europas harmonisieren soll. London wollte sich so die Möglichkeit offenhalten, von günstigeren Strompreisen zu profitieren. Britische Energieanbieter sind dadurch jedoch auch stärkeren Preissprüngen ausgesetzt – was die Preise in Großbritannien derzeit zusätzlich in die Höhe treibt.

Eine weitere britische Besonderheit dürfte die Situation für zahlreiche Strom- und Gaskunden in diesem Winter verschärfen: die starke Fragmentierung von Anbietern. Dutzende von ihnen könnten die Krise nicht überleben. 2014 hat die Regulierungsbehörde Ofgem den Marktzugang in den Gas- und Strommarkt des Landes vereinfacht. Kleine Energieanbieter sollten den Markt aufmischen und so die Dominanz der sechs großen Energiekonzerne brechen. Das hat dazu geführt, dass sich derzeit mehr als 70 Energieanbieter auf dem britischen Markt tummeln.

Die Gaspreise in Europa sind rekordhoch, die Angst vor einem kalten Winter ist groß. Kreml und der russische Konzern Gazprom nutzen das, um Europa Druck zu machen – und riskieren so ihren Ruf als verlässlicher Versorger.
von Cordula Tutt, Florian Güßgen, Silke Wettach

Um die Energiekunden vor verdeckten Kosten und möglichen schwarzen Schafen innerhalb der Branche zu schützen, führte die Behörde zugleich jedoch auch einen Preisdeckel ein, der zwei Mal im Jahr neu ausgerichtet wird. Wegen der stark gestiegenen Preise hob die Ofgem diese Obergrenze zuletzt im August um zwölf Prozent an. Für viele kleinere Anbieter – von denen sich viele nicht ausreichend gegen steigende Preise abgesichert haben – dürfte das jedoch zu wenig sein, um die rasant steigenden Kosten aufzufangen. Die Folge: Es droht eine Pleitewelle. Die Stromkunden der pleitegehenden Firmen müssten dann neue Anbieter finden, bei denen sie deutlich schlechtere Konditionen erhalten dürften. Hunderttausende von Briten könnten dadurch in diesem Winter in die Energiearmut rutschen.

Die steigenden Energiepreise haben zudem eine regelrechte Kettenreaktion in Gang gesetzt, die nun für Engpässe in zahlreichen Industrien sorgen könnte: Denn der Großteil des in Großbritannien industriell eingesetzten CO2s stammt aus zwei Düngemittelfabriken in Nordengland, die das Gas als Nebenprodukt herstellen. Und die haben kürzlich wegen der hohen Gaspreise ihre Produktion für den Rest des Jahres eingestellt.

Das hat in all jenen Teilen der Industrie für einen Aufschrei gesorgt, die auf CO2 angewiesen sind. So benötigen fleischverarbeitende Betriebe CO2 für die Betäubung bei Schlachtungen und die Verpackung und Lagerung von Fleisch. Auch Getränkehersteller und die Verpackungsindustrie sind auf CO2 angewiesen, ebenso Atomkraftwerke und Krankenhäuser, die CO2 für Operationen und Untersuchungen benötigen.

Für die britische Lebensmittelindustrie kommen die Engpässe zu einem besonders schlechten Zeitpunkt. Denn die Branche kämpft derzeit mit einem schweren Mangel an Arbeitskräften und Lkw-Fahrern, den der Brexit ebenfalls verschärft hat. Der Export britischer Lebensmittel in die EU ist seit Jahresbeginn ebenfalls stark eingebrochen. Der Chef des Verbandes der Fleischerzeuger BMPA, Nick Allen, sagte dazu, die Branche befinde sich „zweifellos in einer Krise“. „Die Regierung muss einschreiten und wirklich etwas unternehmen.“ Ian Wright, Geschäftsführer der Food and Drink Federation, warnte, dass bereits „in etwa zehn Tagen“ viele Produkte aus britischen Supermarktregalen verschwinden könnten.

Offenbar hat London die zunehmend drängenderen Aufrufe von Teilen der Wirtschaft erhört: Am Dienstag erklärte das Wirtschaftsministerium, die Regierung habe sich mit der US-Firma CF Industries - die beide CO2 produzierenden Werke in Nordengland betreibt - auf ein Abkommen geeinigt, damit diese wieder ihre Produktion aufnehmen könnten. Was genau London dem US-Unternehmen angeboten hat, ist unbekannt. George Eustice, Minister für Umwelt, Lebensmittel und ländliche Angelegenheiten, räumte am Mittwoch in Radiointerviews ein, dass die Regierung dem Unternehmen „viele Millionen Pfund“ zahlen werde.

Darauf angesprochen, warum die britischen Steuerzahler die Rettung eines amerikanischen Unternehmens finanzieren sollten, antwortete Eustice: „Würden wir das nicht, gäbe es ein Risiko für die Versorgungsketten bei Lebensmitteln. Das ist kein Risiko, das die Regierung eingehen möchte.“

An einer Lösung für den angeschlagenen Energiesektor arbeitet die Regierung offenbar noch. Bislang sind bereits fünf Energieanbieter wegen der hohen Energiepreise in den Konkurs gegangen, mindestens vier weitere könnten in den kommenden Tagen folgen. Erst am Wochenende bemühte sich Bulb, der sechstgrößte Energieanbieter des Landes, um einen Bailout seitens der Regierung.

Energieminister Kwasi Kwarteng gab sich dennoch kämpferisch. Er verteidigte das bestehende Marktmodell und schloss sich der Regierungslinie an, wonach es sich bei den Preisansteigen um ein „weltweites“ Problem handele. Dass es in diesem Winter zu Energieausfällen kommen könnte, sei ausgeschlossen, versicherte der Minister vor dem Parlament. Die Regierung werde auch keine „scheiternden Unternehmen“ retten, fügte er hinzu. „Die aktuelle weltweite Situation könnte dazu führen, dass mehr Anbieter als üblich aus dem Markt ausscheiden, aber dies sollte kein Grund zur Besorgnis oder Panik sein“, sagte Kwarteng.

Für „Firmen mit einem schlechten Geschäftsmodell, die nicht widerstandsfähig gegen Preisschwankungen sind“ solle dann auch nicht der Steuerzahler aufkommen, erklärte der Minister. Zugleich wolle es die Regierung vermeiden, dass wieder eine Situation eintrete, in der „einige wenige große Versorger“ den Verbrauchern Konditionen und Preise diktierten.

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Vertreter des Wirtschaftsministeriums setzten am Dienstag Gespräche mit der Energiebranche fort, um einen möglichen Ausweg aus der verfahrenen Lage zu finden. Und auch in diesem Fall dürfte die Regierung tief in die Taschen greifen, um die Krise zu entschärfen. Medienberichten zufolge haben die größeren Energieanbieter die Regierung um die Einrichtung einer staatlichen „Auffangbank“ ersucht, die vorübergehend alle jene Stromkunden aufnehmen solle, deren bisherige Anbieter pleite gegangen sind und die bei neuen Anbietern umgehend für Verluste sorgen würden. In Berichten ist auch die Rede von möglichen finanziellen Zuschüssen für ärmere Haushalte. Der kämpferischen Rhetorik des Wirtschaftsministers zum Trotz scheint die Regierung zu umfangreichen Eingriffen bereit zu sein, um eine folgenschwere Pleitewelle innerhalb des Sektors zu verhindern.

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