Großmachtstrategie Xi bedroht Chinas Wachstumswunder

Xi Jinping Quelle: AP

China war auf dem Weg, ein gelobtes Land zu werden. Reformpläne versprachen, das enorme Wirtschaftswachstum zu sichern. Die Politik von Staatschef Xi Jinping aber untergräbt die Produktivität. Ein Gastbeitrag.

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Es war der Höhepunkt der asiatischen Finanzkrise in den Jahren 1997 und 1998, als ich zum China-Optimist geriet. Das sogenannte ostasiatische Wachstumswunder lag damals in Trümmern. China galt vielen als Dominostein, der unweigerlich fallen würde. Als Chefvolkswirt von Morgan Stanley aber sah ich das Land mit eigenen Augen – und erlebte, welche Kraft der marktwirtschaftliche Wandel dort entfaltete. Ich nahm deshalb einen völlig anderen Standpunkt ein als viele andere Beobachter: Einen Text in der „Financial Times“ überschrieb ich mit „China, das Land des aufsteigenden Drachen“.

Ich sagte damals voraus, China würde Japan als wirtschaftlichen Motor Asiens ablösen. Japan nämlich taumelte, nachdem seine blasenhaft aufgeblähte Volkswirtschaft implodiert war. Das reformfreudige China dagegen hatte das Kleingeld, die Entschlossenheit und die richtige Strategie, um selbst einen verheerenden externen Schock zu überstehen und sein schnelles Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten. China lieferte. Begünstigt vom Beitritt zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001 hob die Wirtschaft des Landes ab wie eine Rakete, während Japan in sein zweites verlorenes Jahrzehnt schlitterte.

Im Frühling 1998 verbrachte ich einen Tag mit dem damaligen chinesischen Finanzminister Xiang Huaicheng. Er hatte meinen Artikel in der „Financial Times“ gelesen und war an einem Meinungsaustausch über die wirtschaftliche Situation in China und den USA interessiert. Er beschwor mich, Chinas Volkswirtschaft weniger als Summe ihrer althergebrachten Staatsbetriebe zu betrachten und stärker die vielen schnell aufstrebenden und von Unternehmergeist geprägten Unternehmen in den Blick zu nehmen. Diese Betriebe waren damals oft als sogenannte Township and Village Enterprises organisiert. Sie waren also Betriebe im Einflussbereich oft ländlicher Lokalregierungen.

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Xiang ließ damals eine Reise zu mehreren solcher Unternehmen organisieren. Am beeindruckendsten war für mich ein Besuch bei der Hengtong Group, einem schnell wachsenden Hersteller hochwertiger Glasfaserkabel. Das Unternehmen verfügte über Hochtechnologie aus den USA und aus Deutschland. Es beschäftigte erstaunlich viele Hochschulabsolventen. Hengtong war das Gegenteil eines veralteten Staatsunternehmens.

Dieses Erlebnis weckte meinen Appetit. Ich begann, mich eingehender mit der scheinbar paradoxen Dynamik der chinesischen Wirtschaft zu beschäftigen. Zunehmend marktwirtschaftlich orientierte Staatsunternehmen begannen damals, ihre Aktien an internationalen Märkten anzubieten. Zugleich wuchs der Privatsektor mit großer Geschwindigkeit. Dies galt es auszubalancieren. Es stellte sich die Frage: Kann China die Schwierigkeiten vermeiden, mit denen andere gemischt privatwirtschaftlich und von Staatsunternehmen geprägte Volkswirtschaften umgehen mussten.

Die gleiche Frage stellte sich der ehemalige Premierminister Wen Jiabao. Ich traf Wen zum ersten Mal Ende 2002, wenige Monate vor seiner Ernennung zum Premierminister unter Präsident Hu Jintao. Seine Neugierde war beeindruckender als seine Fähigkeiten als Stratege.

Wen aber hatte den Mut, eine Debatte über eines der schwierigsten Probleme Chinas anzustoßen: In einer öffentlichen Pressekonferenz im März 2007 warnte er, dass die Wirtschaft zwar oberflächlich betrachtet stark sei, aber Gefahr laufe, „instabil, unausgewogen, unkoordiniert und unhaltbar“ zu werden. Es steigerte Wens Ansehen, dass er dies wenige Monate vor dem Ausbruch der amerikanischen Subprime-Hypothekenkrise formulierte, die in der globalen Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 gipfelte.

Damals wurde ich erst recht zum China-Optimisten. Die Widerstandsfähigkeit des gemischten Wirtschaftssystems war aus meiner Sicht die Grundlage, auf der eine deutliche Neuausrichtung der chinesischen Wirtschaft gelingen würde. Die von Wen benannten Schwierigkeiten hätten sich lösen lassen, indem sich die Wirtschaft von ihrer Exportorientierung löst und in Richtung konsumgetriebenes Wachstum entwickelt, indem Dienstleistungen gegenüber dem Industriesektor an Bedeutung gewinnen, durch Investitionen in das seit langem unzulängliche Sozialsystem und indem sich die Wirtschaft zunehmend auf eigene statt auf ausländische Innovationen stützt.

In den Jahren nach Wens Feststellung stimmte China seine Fünfjahrespläne auf eine solche Neuausrichtung ab. Optimisten wie ich fühlten sich bestätigt.

Dann kam Xi Jinping. Zunächst schien Chinas Führer der fünften Generation aus demselben Holz geschnitzt zu sein wie der reformorientierte Deng. Ein umfassendes Reformpaket, das auf dem 18. Parteitag Ende 2013 vorgeschlagen wurde, war besonders ermutigend. Doch schon kurz darauf begannen sich unangenehme Veränderungen in die Strategie der Neuausrichtung einzuschleichen.

Im Jahr 2017 leitete Xi den 19. Parteitag mit einer Rückbesinnung auf die marxistische Ideologie ein. Chinas Führung betonte die Neuausrichtung auf konsumgetriebenes Wachstum nun weniger stark. Eine Anti-Korruptionskampagne diente immer weniger dazu, Missetäter aus der Partei zu beseitigen, und drehte sich zunehmend darum, Xis politische Rivalen auszuschalten sowie seine Macht zu konsolidieren. Xis geostrategische Muskelspiele lösten Dengs zurückhaltende Haltung auf der Weltbühne ab. Das führte zum Konflikt mit den Vereinigten Staaten.

Im Jahr 2022 kam es zum ultimativen Weckruf für alle China-Optimisten. Xis Großmachtstrategie führte China kurz vor Russlands Invasion der Ukraine in eine „grenzenlose Partnerschaft“ mit dem Kreml. Xis hartnäckiges Beharren auf der unhaltbaren Null-Covid-Politik rief einen unterschwelligen Dissens hervor, wie es ihn seit einer Generation nicht mehr in China gegeben hatte. Auf dem 20. Parteitag wurde Xis Fixierung auf Sicherheit in einer, wie er es nannte, bedrohlichen Welt mit „gefährlicher, stürmischer See“ deutlich.

Angesichts der schrumpfenden Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter muss China seine Produktivität schneller als bislang verbessern, um wieder Wachstumsweltmeister zu werden. Xis Betonung von Sicherheit, Macht und Kontrolle aber untergräbt die Produktivität zu einer Zeit, in der China diese am meisten braucht. Die Wachstumswunder-Wirtschaft kann darunter nur leiden.

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China ist dem nahe gekommen, was sich ein gelobtes Land nennen lässt. Seine modernisierte Wirtschaft befand sich auf einem außergewöhnlichen Weg. Die begonnene Neuausrichtung versprach weitere Verbesserungen. Doch Xi hat das Versprechen gebrochen. Die politische Ökonomie der Autokratie hat uns unerschütterliche China-Optimisten kalt erwischt.

Copyright: Project Syndicate, 2022.

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