Grünen-Außenpolitikerin Rebecca Harms Türkei – „Alle Befürchtungen erfüllen sich“

Nach dem gescheiterten Militärputsch in der Türkei wendet sich Erdogan wieder Russland zu. Die Grünen-Außenpolitikerin Rebecca Harms macht der türkischen Regierung große Vorwürfe, warnt aber vor Affekthandlungen.

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„Manchen scheint es jetzt darum zu gehen, es Erdogan mit dem Abbruch der Beitrittsverhandlungen einmal so richtig zu zeigen.“ Quelle: dpa

Frau Harms, werten Sie die Hinwendung Erdogans zu Putin als taktisches Manöver angesichts der Kritik aus dem Westen oder als Beginn einer strategischen Umorientierung der Türkei?
Das ist derzeit noch offen. Für Präsident Erdogan scheint es momentan nahe zu liegen, unter autokratischen Führern neue Verbündete zu suchen. Er zeigt dabei eine atemberaubende Flexibilität – nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei hatten wir ja kürzlich noch eine weitere militärische Eskalation zwischen den beiden Staaten befürchtet.

Was hat Putin dem türkischen Präsidenten denn konkret zu bieten?
Russland ist für die Türkei wirtschaftlich wichtig. Durch die „Turkish Stream“-Pipeline soll russisches Gas in die EU transportiert werden, die russische Rosatom baut an einem strittigen Atomkraftwerk Akkuyu. Auf Tourismus und den Absatz landwirtschaftlicher Produkte in Russland will Erdogan nicht verzichten. Nach dem Abschuss lag alles auf Eis.

Erdogan beklagt, anders als Putin hätten die Verbündeten im Westen nach dem gescheiterten Militärputsch nur wenig Solidarität gezeigt. Haben Sie dafür Verständnis?
Die türkische Regierung hat volle Unterstützung, wenn sie gegen die für den Putsch Verantwortlichen in ordentlichen Verfahren vorgeht. Die Nacht des Putschversuchs war für alle von uns in Brüssel unerträglich, die intensiv mit türkischen Kollegen arbeiten. Aber dass wir schnell eine Gegenreaktion befürchteten, jenseits von Rechtsstaatlichkeit und Verhältnismäßigkeit, hat mit Erfahrungen der letzten Jahre mit Präsident Erdogan zu tun. Was seit dem Putsch in der Türkei passiert, lässt oft mehr an Hexenjagd als an Aufklärung der Ereignisse denken.

Ankara macht die Bewegung des Predigers Gülen verantwortlich für den versuchten Umsturz, deshalb will sie den Staatsapparat und die Gesellschaft von dessen Anhängern säubern.
Folter, Androhung der Todesstrafe, die Verhaftungs- und Entlassungswellen: Alle Befürchtungen erfüllen sich. Ich kenne einige der Festgenommenen persönlich, darunter sind Journalisten, die für Gülen-nahe Medien arbeiten. Ehemalige Mitarbeiter und Kollegen von mir müssen sich bedroht fühlen, nur weil sie in diesen Zeitungen veröffentlichen. Und diese haben ganz sicher nichts mit dem Putsch zu tun. Es ist offenkundig, dass im Windschatten des Putsches auch alte Rivalitäten geklärt werden und der Staat „gesäubert“ wird.

Sollte die EU die Verhandlungen mit der Türkei über einen EU-Beitritt oder den Flüchtlingspakt jetzt beenden, wie es der österreichische Bundeskanzler Kern fordert?
Europa sollte auf keinen Fall im Affekt reagieren. Nach allen Fehlern gegenüber der Türkei würde so das Kind mit dem Bad ausgeschüttet werden. Auch wenn klar ist, dass die Türkei so nicht in die EU kommt, muss gemeinsam im Europäischen Rat und nicht allein in Wien entschieden werden, wie es weitergehen soll und kann. Manchen scheint es jetzt darum zu gehen, es Erdogan mit dem Abbruch der Beitrittsverhandlungen einmal so richtig zu zeigen. Das stellt sicher einen Teil der Wähler zufrieden. Aber es dient nicht den langfristigen Interessen der Bürger der EU oder der Türkei. Der Schutz derjenigen, die in der Türkei Hoffnung auf die EU gesetzt haben, muss, so schwierig es ist, von uns verfolgt werden. Jedes Gespräch ist wichtig.

Immerhin ist die Türkei in der Nato.
Neben der Nato-Mitgliedschaft war die wichtigste Idee für Sicherheit, dass eine demokratische Türkei als Partner die Region stabiler macht und damit auch für uns sicherer. Und es war ja gerade Erdogan, der sich als Regierungschef dafür einsetzte. Dieses Interesse geht weit über das Flüchtlingsabkommen hinaus und ist nicht geringer geworden, auch wenn es mit Blick auf Ankara und die Region zur Zeit weit schwieriger erscheint.

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