Hilfsorganisationen schlagen Alarm In Griechenland droht ein neues Flüchtlingschaos

Immer mehr Kriegsflüchtlinge und Armutsmigranten kommen über die Ägäis zu den griechischen Inseln. Hilfsorganisationen kritisieren Missstände in den überfüllten Lagern.

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In einem offenen Brief an Ministerpräsident Alexis Tsipras spricht die Organisation Ärzte ohne Grenzen von einem „Notstand“ auf den Inseln. Quelle: dpa

Athen „Die Ungewissheit erdrückt uns, sie bringt uns um.“ Worte einer 29-jährigen Frau aus Syrien, die seit Monaten mit ihrer Familie in einem Lager auf der griechischen Insel Lesbos festsitzt, dokumentiert von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Das Schicksal der Flüchtlinge auf den Inseln der östlichen Ägäis war in den vergangenen Monaten aus dem Fokus der Medien geraten. Die Flüchtlingskrise schien vergessen. Aber jetzt kehrt sie zurück. Denn Woche für Woche kommen mehr Schutzsuchende in Schlauchbooten und Holzkähnen von der türkischen Küste zu den Inseln. Im Juni waren es rund 2000, im August fast 3600 und im September nahezu 5000. Seit Anfang Oktober kamen fast 1700. Allein am Montag und Dienstag dieser Woche waren es 440.

Das sind zwar viel weniger als auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Frühjahr 2015. Damals erreichten an manchen Tagen mehr als 3000 Menschen die griechischen Inseln. Aber der griechische Migrationsminister Giannis Mouzalas spricht von einem „merklichen Anstieg“. Worauf er zurückzuführen ist, darüber rätseln die griechischen Behörden noch. Das ruhige, windstille Herbstwetter erleichtert den Schleusern ihr schmutziges Geschäft, den Menschenschmuggel über die Ägäis. Experten der griechischen Küstenwache berichten außerdem, die türkischen Behörden hätten die Kontrollen an ihrer Küste reduziert – was man in Ankara aber bestreitet. Dass die Türkei den im Frühjahr 2015 mit der EU ausgehandelten Flüchtlingspakt platzen lassen könnte, mag man sich in Athen gar nicht ausmalen. Das wäre „eine Katastrophe“, sagt Minister Mouzalas.

Aber schon so wird die Lage von Tag zu Tag schwieriger. Die Auffanglager auf den Inseln sind überfüllt. Dort warten, so der Stand vom Dienstag, in den so genannten Hot-Spots 13.875 Kriegsflüchtlinge und Armutsmigranten auf die Bearbeitung ihrer Asylanträge, manche seit mehr als einem Jahr. Die Bearbeitung läuft schleppend. Weil ständig neue Flüchtlinge und Migranten aus der Türkei nachkommen, wird die Warteliste immer länger. Auf der Insel Samos hausen fast 3000 Menschen in einem Lager, das für 700 Personen ausgelegt ist. Im Hot-Spot auf Lesbos leben 5086 Menschen – die Kapazität des Lagers ist 2330. Auf der Insel Chios gibt es 894 Schlafplätze für 1525 Flüchtlinge.

Viele Familien hausen in provisorischen Zeltlagern außerhalb der eigentlichen Camps. Im Lager Vathy auf Samos leben etwa 700 Menschen in Campingzelten, die nicht winterfest sind. Auf Lesbos sind sogar rund 1500 Flüchtlinge in Zelten ohne Böden, Isolation oder Heizmöglichkeiten untergebracht, darunter schwangere Frauen, Familien mit kleinen Kindern und Behinderte.

Die Helfer haben noch vor Augen, was sich im vergangenen Winter abspielte: Die dünnen Zelte brachen unter der Last des Schnees zusammen, die Lager versanken im Schlamm. Flüchtlinge kauerten in ihrer nassen Kleidung an Lagerfeuern, um sich ein wenig zu wärmen. Sechs Menschen starben. Jetzt droht sich das Drama zu wiederholen. „Wir appellieren an die Behörden, etwas gegen die Überfüllung in den Lagern zu unternehmen, die Unterbringung zu verbessern und mehr Hilfsgüter bereitzustellen“, erklärt Philippe Leclerc, Repräsentant der Uno-Flüchtlingsagentur UNHCR in Griechenland. Die Situation auf den Inseln „nähert sich einem kritischen Zustand“, warnt Leclerc.


Ärzte ohne Grenzen schlägt Alarm

Jetzt schlägt auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) Alarm. In einem offenen Brief an Ministerpräsident Alexis Tsipras spricht die Organisation von einem „Notstand“ auf den Inseln. Damit sind nicht nur die unzureichenden Unterbringungsmöglichkeiten und die hygienischen Missstände gemeint. Ärzte ohne Grenzen ist auch zunehmend besorgt über den „dramatisch schlechten seelischen Gesundheitszustand“ vieler Flüchtlinge. „Diese Menschen haben Bombardements, extreme Gewalt und traumatische Erfahrungen in ihren Heimatländern und auf der Flucht nach Europa erlebt“, sagt Jayne Grimes, die das psychosoziale Programm von Ärzte ohne Grenzen auf der Insel Samos leitet. „Doch es sind die Lebensumstände auf den griechischen Inseln, die sie in Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und selbstverletzendes Verhalten treiben.“ Grimes: „Es ist eine Schande. Jeden Tag behandeln unsere Teams Patienten, die ihnen sagen, dass sie lieber in ihren Heimatländern gestorben wären als hier gefangen zu sein.“

Ärzte ohne Grenzen berichtet von einem 41-jährigen Syrer, der in einem Gefängnis in seiner Heimat schwer gefoltert wurde, bevor er über die Türkei nach Griechenland fliehen konnte. Als er auf Lesbos eine Klinik aufsuchte, sagte man ihm dort, die Wartezeit für einen Termin beim Psychiater der Klinik betrage acht Monate. „Als ich das hörte, wäre ich am liebsten gestorben“, sagt der Mann. Während des Sommers kamen pro Woche fast täglich neue Patienten nach Selbstmordversuchen, Vorfällen von Selbstverletzung oder psychotischen Episoden mit akutem Behandlungsbedarf in die Klinik von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos. Das Hospital wurde 2015 eröffnet und bot anfangs primäre Gesundheitsversorgung für Asylsuchende, konzentriert sich aber inzwischen auf Überlebende von Folter, Opfer sexueller Gewalt und Patienten mit schweren psychischen Störungen.

Louise Roland-Gosselin von Ärzte ohne Grenzen sieht nicht nur die griechische Regierung, sondern auch die EU in der Verantwortung. Sie fordert, die Internierung der Menschen auf den Inseln zu beenden. Es sei „ein humanitärer Imperativ, die Menschen auf das Festland zu bringen“, wo sie besser versorgt werden können, sagt Roland-Gosselin. „Die extreme Verletzlichkeit der Menschen und das komplette Versagen aller Ankunftssysteme auf den Inseln lassen keine andere Maßnahme zu“, so die Ärztin.

Doch nach den Regeln der EU-Asylverfahren müssen die Ankömmlinge so lange auf den Inseln bleiben, bis über ihre Anträge entschieden ist. Wer Asyl bekommt, darf aufs Festland weiterreisen; wer abgelehnt wird, muss damit rechnen, in die Türkei zurückgeschickt zu werden. Nach Angaben der griechischen Asylbehörde vom Mittwoch sind zurzeit etwa 10.000 Asylverfahren auf den Inseln anhängig.

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