Hochqualifizierte Warum die Leistungsträger auswandern

Die Zahl der Auswanderer steigt und steigt. Besonders die Leistungsstarken kehren der Heimat den Rücken. Eine exklusive Studie zeigt, warum so viele Deutsche ihr Glück in der Ferne suchen.

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Clemens Fuest, Professor für Unternehmensbesteuerung an der Universität Oxford Quelle: Michael Dannenmann für WirtschaftsWoche

Ein kleines bisschen, sagt Clemens Fuest, fühle er sich schon wie ein Verräter. Wie einer, der seine Getreuen im Stich lässt, die Koffer packt und sich aus dem Staub macht. Fuest ist Finanzwissenschaftler an der Universität Köln, er gilt als einer der forschungsstärksten Ökonomen seines Jahrgangs und genießt internationales Renommee. Der 39-Jährige hat in jungen Jahren so ziemlich alles erreicht, was ein Volkswirt in Deutschland erreichen kann. Fuest kam ins Grübeln: „Möchte ich jetzt 29 Jahre bis zur Pension so weitermachen?“

Der Kölner hat diese Frage mit Nein beantwortet und einen Entschluss gefasst, der sein ganzes Leben umkrempeln wird: Er wechselt in wenigen Wochen an die Universität Oxford. Dort wird er am Centre of Business Taxation endlich genug Zeit haben, tagelang vor sich hin zu forschen. Er wird Tür an Tür mit den Besten seines Faches arbeiten, und er wird sehr anständig verdienen. Zugleich lässt er den zeitfressenden Verwaltungskram eines deutschen Lehrstuhlinhabers hinter sich, ebenso die Pflicht, neun Stunden pro Woche im Hörsaal zu stehen. Fuest, ein Zahlenmensch, der nicht zum Pathos neigt, strahlt aus seinen blauen Augen, wenn er sagt: „Für mich geht da ein Traum in Erfüllung.“

Der Wissenschaftler gehört zu den Tausenden hoch qualifizierter Deutscher, die der Heimat Adieu sagen und sich in das Abenteuer Ausland stürzen. Sein Abgang ist ein herber Verlust für die Uni, wenn nicht für die gesamte deutsche Volkswirtschaftslehre. Fuests Weggang wird in der Wanderungsstatistik im nächsten Jahr auftauchen. Sehr wahrscheinlich, dass bis dahin die Zahl der Auswanderer erneut steigen wird – wie schon in der gerade veröffentlichten Statistik für 2007 und wie auch in den Jahren zuvor: In den vergangenen sechs Jahren stieg die Zahl deutscher Auswanderer um 47 Prozent. Allein im vergangenen Jahr packten 161.000 Deutsche ihre Koffer, das entspricht ziemlich genau der Einwohnerzahl von Osnabrück. Vermutlich ist die Gruppe der Abtrünnigen sogar um ein Drittel größer, sagen Forscher. Denn die Statistik erfasst nur diejenigen, die sich ordnungsgemäß abmelden.

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Die Folgen der Auswanderungswelle werden in Politik und Wissenschaft kontrovers diskutiert. Die einen befürchten den sogenannten Brain Drain und glauben, dass Deutschland geistig veröde. Vor allem die gut Qualifizierten gehen, die Leistungsstarken, Selbstbewussten, Risikobereiten. Diese Talente fehlen der Wissenschaft als Ideenlieferanten und Lehrende, sie fehlen den Unternehmen als Fachkräfte, sie fehlen dem Staat als Steuerzahler, dem Standort als Gründer. Und sie fehlen der Gesellschaft als Vorbilder.

Andere Experten warnen vor einer Dramatisierung des Problems und weisen darauf hin, dass einige Auswanderer zurückkehren (wollen), dass sich zudem die Arbeitswelt und damit der Wettbewerb um die klügsten Köpfe immer stärker internationalisiert und deshalb mehr Menschen aus Karrieregründen das Land verlassen. Der Standort im weltweiten Wettbewerb müsse attraktiv genug bleiben, damit Auswanderer zurückkehren – und hoch qualifizierte Einwanderer nach Deutschland kommen.

Beides richtig, glaubt der renommierte Migrationsforscher Klaus Bade. „Vor allem aber ist Auswanderung eine Abstimmung mit Füßen, ein Indiz, dass etwas nicht stimmt in diesem Land.“ Man müsse die Motive der Auswanderer erforschen, die Probleme klar benennen und beseitigen. Bade erkennt einen doppelten Nutzen: „Genau die Gründe, mit denen Deutsche ihre Auswanderung erklären, halten auch gut ausgebildete Ausländer davon ab, nach Deutschland zu kommen.“ Jahrelang hätten die Politiker Ursachenforschung vernachlässigt. „Da will einfach keiner so richtig ran“, sagt Bade, „denn dann geht es ans Eingemachte.“

Das Wegducken funktionierte auch deshalb so gut, weil über Auswanderer naturgemäß schwer zu forschen ist: Sie leben überall verstreut in der Welt. Die Datenlage ist unübersichtlich; Statistiken, oft genug ungenau, beleuchten meist nur einzelne Berufsgruppen. Viele Fragen sind offen: Flüchten die Auswanderer aus Deutschland, weil sie die Nase voll haben von der kalten Steuerprogression, den schlechten Aufstiegschancen und der wuchernden Bürokratie? Oder sind es die verlockenden Karrierechancen im Ausland, denen sie nicht widerstehen können? Und vor allem: Wollen sie jemals wieder zurückkommen – und wenn ja, aus welchen Gründen? 

Erstmals bringt jetzt das Forschungsinstitut Prognos Licht in das statistische Dunkel. In einer umfangreichen Studie haben die Prognos-Leute im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums die Motive ausgewanderter Fach- und Führungskräfte aus Wirtschaft und Wissenschaft untersucht. 1400 im Ausland lebende Deutsche beantworteten den Prognos-Fragebogen, die Ergebnisse liegen der WirtschaftsWoche exklusiv vor. Wichtigster Befund der Studie: 68 Prozent der Befragten erhofften sich von ihrem Wechsel ins Ausland einen besseren Job und mehr Geld. 38 Prozent gaben an, dass auch die hohe Steuer- und Abgabenlast ein Grund dafür war, das Land zu verlassen, 31 Prozent störten sich an der Bürokratie.

Damit bestätigen die Forscher, was viele befürchtet hatten. An erster Stelle stehen erwartungsgemäß Karrieremotive, auf der anderen Seite sind es aber auch fiskalische Gründe, die die Menschen aus der Heimat vertreiben. Ein fataler Kreislauf: Ausgerechnet gut verdienende Steuer- und Abgabenzahler, die das Land dringend braucht, flüchten vor hohen Steuern.

Die promovierte Ärztin Stefanie Robert lebt seit sieben Jahren in London Quelle: J.P. Masclet für WirtschaftsWoche

Forscher Bade glaubt sogar, dass dies erst der Anfang ist. Er beobachtet eine zunehmende Proteststimmung in der Mittelschicht. „Der radikale Schritt des Auswanderns wird auch wegen unseres Steuersystems und der Bevormundungsbürokratie erstmals zu einer ernsthaften Alternative.“ Die Prognos-Studie belegt diesen Zusammenhang. Je höher das Einkommen der Befragten ist, desto wichtiger wird für sie das Auswandermotiv der hohen Steuerlast.

Wenn die Bürger erst einmal das Land verlassen haben und ihnen die Integration in der Fremde gelungen ist, dann will fast die Hälfte nicht mehr zurück. Immerhin 46 Prozent geben an, dass sie sich eine Rückkehr vorstellen können, sieben Prozent planen konkret ihre Rückkehr. Das wichtigste Rückkehrmotiv ist rein privater Natur: Die Auswanderer wollen wieder näher bei den Familienangehörigen leben.

Aus diesem Grund spielt auch Stefanie Robert mit dem Gedanken, nach Deutschland zurückzukehren. Die promovierte Ärztin arbeitet in einer Klinik am Londoner Stadtrand. Ihr Vater, der im westfälischen Dorsten lebt, hat gerade eine schwere Krankheit überstanden. Es geht ihm wieder besser, trotzdem möchte Stefanie Robert künftig näher bei den Eltern wohnen. „Mit zunehmenden Alter wird das für mich immer wichtiger“, sagt sie.

Die 33-Jährige gehört einer Berufsgruppe an, die es besonders häufig ins Ausland zieht, vor allem nach Großbritannien. Die Bundesärztekammer schätzt, dass etwa 19.000 deutsche Ärzte jenseits der Grenze praktizieren, weil sie mit dem Gehalt, den Arbeitszeiten und dem Übermaß an Bürokratie nicht zufrieden sind – Ärzte, die nun in vielen Kliniken und in Teilen Ostdeutschlands auch als niedergelassene Ärzte schmerzlich vermisst werden.

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Auch Stefanie Robert litt unter der starren Krankenhaushierarchie und den strikten Vorschriften. Während des Studiums durfte sie in Deutschland nicht einmal den Patienten Blut abnehmen. Dann ging sie nach Wales und war sofort in das Klinikteam integriert. „Ich wusste gar nicht“, sagt die Ärztin, „wie schön das Arbeiten ohne Bürokratie und starre Hierarchien in einem internationalen Team sein kann.“

Diese Erfahrung hatte sie darin bestärkt, auf Dauer in England zu arbeiten. Seit sieben Jahren lebt die Medizinerin nun auf der Insel. Doch allmählich bekommt das makellose Bild vom Ärzteparadies Großbritannien Flecken. Die Ärztin verzweifelt inzwischen an dem chronisch klammen englischen Gesundheitssystem. „Wenn in einem hochentwickelten Land Notfallpatienten mangels freier Betten abgelehnt werden müssen, kann etwas nicht stimmen.“ Auch die Kriminalität in der Großstadt beunruhigt die junge Frau. Vielleicht, sagt sie, habe sie erst ins Ausland gehen müssen, um zu sehen, dass in Deutschland doch nicht alles so schlecht sei.

Das sieht Wulf Goretzky ähnlich. Der 49-jährige Volkswirt hat die vergangenen 17 Jahre im Ausland als Wirtschaftsförderer und Regierungsberater gearbeitet. Jetzt macht er Schluss mit dem Seemannsleben. „Irgendwann“, sagt er, „will man wissen, wo man hingehört.“ Seine neue Heimat heißt Cottbus, er leitet dort die Wirtschaftsförderung der Stadt und profitiert von seinen internationalen Kontakten. Als er wegging, kam ihm Deutschland zu starr und unbeweglich vor. Jetzt ist er erstaunt, wie gut das Land funktioniert. Goretzky, der in insgesamt 40 Ländern gearbeitet hat, sagt: „Die Deutschen jammern auf verdammt hohem Niveau.“

Viele Auswanderer kommen früher oder später an diesen Punkt. Darin liegt eine große Chance für den Standort Deutschland. Sollte die Ärztin Robert den Entschluss fassen, Großbritannien zu verlassen, kehrt sie fachlich und persönlich gereift zurück. Sie wäre ein Beispiel für das, was Migrationsforscher neudeutsch Brain Circulation nennen: Ein Kreislauf der Besten, ein globales Kommen und Gehen. Die befristete Abwesenheit von Teilen der Bildungselite wäre dann kein volkswirtschaftlicher Verlust, sondern am Ende gar ein Gewinn.

Diese Meinung vertreten viele Forscher, die sich mit den Wanderungen von hoch Qualifizierten beschäftigten. Einer von ihnen ist Oliver Koppel vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln. Er will am Donnerstag eine Studie vorstellen, die die Brain-Drain-Debatte neu befeuern dürfte. Koppel hat sämtliche Wanderungsstatistiken ausgewertet, alle Zu- und Abgänge saldiert und kommt zu dem Ergebnis, dass Deutschland mehr ausländische hoch Qualifizierte anlockt, als es an andere Länder verliert. Genaue Zahlen will er noch nicht preisgeben. Nur so viel: „Das Gerede vom Brain Drain ist Kokolores, es handelt sich eher um ein gefühltes Phänomen.“

Der Volkswirt Wulf Goretzky hat 17 Jahre lang in 40 Ländern der Welt gearbeitet Quelle: Hans Scherhaufer für WirtschaftsWoche

Das bedeutet aber nicht, dass sich die Politiker zurücklehnen können: „Denn wir gewinnen nicht genug hoch Qualifizierte, um die Engpässe etwa bei Ingenieuren oder Informatikern kompensieren zu können“, sagt Koppel. Das IW schlägt vor, das Einwanderungsrecht um ein Punktesystem zu ergänzen, mit dem Deutschland den Zuzug von Ausländern bedarfsgerechter steuern kann. Im Gegensatz zu sehr eng gefächerten Punktesystemen wie in Australien empfiehlt das IW, generell Akademikern die Einwanderung und Ansiedlung zu erleichtern. Wichtig sei zudem, den bereits Zugewanderten mehr Bildungschancen zu eröffnen und sie besser zu integrieren.

Das ist bitter nötig. Immer mehr Einwanderer werden zu Auswanderern. Kamuran Sezer, Chef des Krefelder Forschungsinstituts futureorg, sorgte jüngst für Schlagzeilen, als er Zwischenergebnisse einer Umfrage unter 250 türkischen und türkischstämmigen Akademikern veröffentlichte. 38 Prozent gaben an, dass sie in die Türkei auswandern wollen. „Ein wichtiger Grund ist offenbar, dass sie sich in Deutschland nicht heimisch fühlen“, sagt Sezer.

Erick Tambo von der Uni Dortmund kennt dieses Gefühl. Der Informatiker stammt aus Kamerun, promoviert an der Fernuni Hagen und berät in Dortmund ausländische Studierende. Zwar habe sich die Rechtsprechung gebessert, aber nach dem Studium ziehe es viele Ausländer trotzdem in andere Länder. „Die Ausländerbehörden“, sagt Tambo, „vermitteln oft das Gefühl, dass man nicht erwünscht ist.“ Er überlegt ebenfalls, Deutschland nach der Promotion zu verlassen – nach Kanada.

Bundesländer belohnen Rückkehrer

Während ausländische Akademiker auf gepackten Koffern sitzen, konzentrieren sich Politiker darauf, fahnenflüchtige deutsche Wissenschaftler wieder einzufangen. Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen belohnen Rückkehrer mit Fördermitteln für den Aufbau einer Forschungsgruppe. Stiftungen und Unternehmen bauen Brückenköpfe wie die German Scholars Organization, um den Kontakt zu deutschen Wissenschaftlern in den USA zu pflegen, oder loben Professuren aus.

Solche Initiativen sind wichtig. Zumal die Hochschulen im wohl größten Reformprozess ihrer Geschichte stecken. Viele Neuerungen, etwa die Autonomie, sind nach Meinung von Experten sinnvoll, doch die ohnehin schon zerfranste Hochschullandschaft wird dadurch nicht übersichtlicher. Die Bestimmungen unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland. Deutsche Forscher, die im Ausland arbeiten, blicken kaum noch durch.

Die Probleme dagegen sprechen sich schnell herum: Das Rekrutieren von Professoren ist langwierig, die Bezahlung lausig. Ein Professor der Besoldungsstufe W2 verdient nicht mehr als ein Realschullehrer. Noch dazu deckelt der sogenannte Vergaberahmen die Professorengehälter an einer Hochschule. Dies hat zur Folge, dass sich die Professoren einen teuren, aber guten Kandidaten aus dem Ausland oft nicht leisten wollen, weil die Verpflichtung die eigenen Gehaltsperspektiven verschlechtert.

In anderen Ländern sind die Hochschulen nicht so knauserig. Aufstrebende Nationen wie Indien und China drängen auf den internationalen Bildungsmarkt und saugen mit viel Geld gute Wissenschaftler ab. „Überall in der Welt“, sagt Georg Schütte, Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung, „bilden sich Enklaven der Spitzenforschung, alle machen Jagd auf die besten Köpfe.“

Auch auf die Deutschen.

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