Hoffnung nach jahrelanger Krise Warum deutsche Unternehmen sich Brasilien weiter antun

Blick auf Rio de Janeiro und Zuckerhut in der Dämmerung

Die größte Volkswirtschaft Südamerikas tut sich schwer, ihre Krise hinter sich zu lassen. Doch die Erhöhung des Rentenalters um ganze fünf Jahre gibt dem Land einen neuen Schub, von dem auch deutsche Firmen profitieren.

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Der Oktober bereitete Frank Bender einige schlaflose Nächte. Reformstau, sinkende Wachstumsprognosen, hohe Arbeitslosigkeit, gebremster Konsum? Ach, wenn es das doch nur wäre. Den Lateinamerika-Chef des deutschen Gabelstapler- und Lagertechnikanbieters Kion plagt ein eingeklemmter Nerv in der linken Schulter. Vor ein paar Tagen wurden die Knochen gefräst. Bender macht seitdem nachts kein Auge zu. Wen kümmert da noch eine schwächelnde Konjunktur.

Jetzt sitzt er in einem Couchsessel im Foyer des Fertigungsstandorts von Kion in Sao Paulo und beißt die Zähne zusammen. Sein Gesicht ist fahl, der Schmerz treibt ihm den kalten Schweiß auf die Stirn. „Meine Frau meinte, ich sollte jetzt endlich mal zuhause bleiben, aber ich kann nicht. Ich muss heute Nachmittag zur Messe. Unsere Kunden wollen mich dort sehen. In Brasilien läuft das Geschäft sehr stark über persönliche Beziehungen“, sagt Bender. Der Mann ist 52. Sein Name klingt deutscher als der vieler Deutschen. Aber Bender ist Brasilianer. Die Großeltern siedelten einst über. Pflichtbewusst ist er wie ein Beamter zu Kaiser Wilhelms Zeiten.

Kions Firmenzentrale in Frankfurt am Main ist mit ihm schon durch dick und dünn gegangen in den vergangenen Jahren: Wirtschaftskrisen, politische Krisen, Währungskrisen. „Wenn hier die Konjunktur einbricht, dann bricht sie richtig ein. Schwankungen von 40 Prozent gehören hier zum Tagesgeschäft“, meint Bender. Er hat den Deutschen immer wieder gepredigt, wie wichtig es ist, die Fixkosten in Brasilien deshalb so gering zu halten wie möglich. Das bedeutet aber, dass die Betriebskosten in guten Zeiten höher sind als nötig. Beispiel: Chassis für die eigenen Fahrzeuge kauft Bender ein, statt sie billiger selbst zu produzieren. Auch verzichtet er auf Roboter und Maschinen bei der eigenen Montage, wenn sie nicht absolut notwendig sind.

Das bedeutet aber auch, dass er die Produktion in schlechten Zeiten in eine Art Winterschlaf versetzen kann und enorm Kosten spart. Mit dieser Strategie hat er Kion in Südamerika zum Marktführer gemacht. Und eigentlich wäre jetzt genau der richtige Zeitpunkt, um in Rente zu gehen. Ein Abgang auf dem Höhepunkt sozusagen. Aber da hat ihm die Politik einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ende Oktober winkte der Senat endgültig die Reform des Rentensystems durch, die der neue rechtspopulistische Präsident Jair Bolsonaro angeschoben hatte. Bender muss jetzt fünf Jahre länger arbeiten, um seine vollen Ansprüche geltend zu machen. Statt 35 Jahre sind es ab sofort 40 Jahre.

Der Staat hat ihm kurz vor Erreichen des Pensionsalters ein paar Jahre Nachsitzen aufgebrummt. Man könnte ihm kaum übel nehmen, würde er wie wild mit den Fäusten auf den Boden trommeln. Doch Bender ist nicht wütend. Im Gegenteil: Er ist erleichtert. „In zehn Jahren wäre unser Land so pleite gewesen wie die Griechen“, sagt er. Es sei allerhöchste Zeit gewesen, die Reform endlich anzugehen. Auch die früheren sozialistischen Präsidenten hatten sich schon an ihr versucht, stießen aber auf Widerstand und waren letztlich machtlos. Jetzt herrscht offenbar der Konsens, dass anhaltende parteipolitische Spielchen das Land unweigerlich in den Ruin führen. „Endlich haben alle Politiker begriffen, dass es so nicht weitergehen kann.“

Vom Brics-Riesen zum Sorgenkind

Brasilien steht am Scheideweg. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts schienen die Bäume in den Himmel zu schießen. Stramme Konjunkturdaten und eine wachsende Mittelschicht läuteten vermeintlich goldene Zeiten ein. Ganz Lateinamerika blickte bewundernd hinüber zum Brics-Riesen, der sich mit Russen, Chinesen und Indern an einen Tisch setzte, um die Zukunft zu besprechen. Doch die Politik versagte dabei, die nötigen Reformen umzusetzen. Dann sanken die Preise für Rohstoffe, die private Verschuldung nahm zu, und die Produktivität der Wirtschaft reichte nicht aus, um die Prophezeiung wahr zu machen. Brasilien wurde trotz gewaltiger Mengen Rohöl, seiner immensen Holzvorkommnisse und über 200 Millionen Konsumenten tatsächlich wieder zum Sorgenkind. Die Finanznöte sind so groß, dass staatseigene Raffinerien an ausländische Ölkonzerne verscherbelt werden sollen. Dann droht die groteske Situation, dass Brasilien als einer der größten Erdölförderer der Welt in Zukunft seinen Diesel importieren müsste.

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