Interrail-Pläne der EU Ein Ticket gegen den Europa-Frust

Kostenlos reisen für junge Menschen – und sich dabei als Europäer entdecken: Die einfache Idee zweier Studenten begeistert selbst das bürokratische Brüssel. Nun beginnt der Kampf um die Umsetzung.

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Vor allem in Südeuropa sind die Arbeitslosenquoten weiter hoch. Quelle: dpa

Berlin Keine Perspektive, Arbeitslosigkeit, Frust: Als die beiden Studenten Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer mit einem Interrail-Ticket durch Europa reisen, hören sie diese Klagen immer wieder von jungen Menschen. Ob in Schweden, Frankreich, Polen, Spanien: Überall haben sie mit jungen Menschen über Europa gesprochen – und überall die gleichen Geschichten gehört. Die Hoffnungslosigkeit ist groß. Viele junge Menschen können nicht einmal in ihr Nachbarland reisen, weil das Geld fehlt. Denn solch ein Interrail-Ticket kostet rund 400 Euro.

Doch wer den Nachbar nicht kennenlernt, kann auch kein Gespür für das andere Land oder einen ganzen Kontinent entwickeln. Kann nicht erleben, was es heißt, Europäer zu sein. „Irgendwann hatten wir dann die Idee“, erinnert sich Martin Speer: Wie großartig wäre es, wenn die EU-Kommission jedem Europäer zum 18. Geburtstag einen Brief schreiben und ein Interrail-Ticket schenken würde? Reisen baue Ängste und Vorurteile ab, sagt Speer. Fremde Menschen könnten so zu Freunden werden – die europäische Integration im Zug.

Das war 2014. Zweieinhalb Jahre später ist aus der Idee eine Möglichkeit geworden. Die EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc sagt im Europaparlament: „Wir sind bereit, das genauer zu prüfen.“ Der Vorschlag sei eine exzellente Idee, sagte sie. Im ZDF-Politbarometer befürworten 56 Prozent aller Deutschen das Gratis-Ticket. Politiker twittern, der Vorschlag sei „toll“.

Martin Speer und Vincent-Immanuel Herr haben dafür viel Zeit und Lobbyarbeit investiert. Im Sommer 2015 veröffentlichen sie den Vorschlag zum ersten Mal in verschiedenen Medien. Der ungarische Europaabgeordnete István Ujhely nimmt den Vorschlag auf und sendet eine Anfrage an die Europäische Kommission. Im Februar 2016 treffen sich Speer und Herr mit weiteren Abgeordneten in Brüssel, Ende August steht die Idee in einem Papier des Europaparlaments. Als Manfred Weber von der konservativen EVP-Fraktion die Idee im September erneut erwähnt, melden sich weitere Unterstützer im Parlament – auch auf Twitter bewerben immer mehr Nutzer die Idee von Herr und Speer. „Am wichtigsten war für uns die positive Resonanz der Kommission“, sagt Speer. Er glaubt, dass ihre Idee nun ein gutes Drittel im Prozess vom Plan bis zur Realisierung geschafft hat.

Bis zur konkreten Umsetzung des Vorschlags gibt es allerdings noch einige Probleme zu lösen. Nach eigenen Berechnungen von Herr und Speer würde das Gratis-Ticket für alle 18-Jährigen bis zu 2,2 Milliarden Euro kosten. Selbst wenn nicht jeder Jugendliche den Gutschein einlöste, wäre wohl ein Milliardenbetrag fällig. Länder wie Malta, Zypern oder Litauen gehören dem Interrail-System zudem bislang nicht an. Für sie müsste eine Sonderregelung gefunden werden. Kritiker bemängeln, es gebe wichtigere Probleme in der EU wie etwa die hohe Jugendarbeitslosigkeit in vielen südlichen Ländern. Dafür könne man das Geld sinnvoller einsetzen.

EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc knüpfte ihre Zustimmung deswegen an die Bedingung, zunächst Kosten, Finanzierungsmöglichkeiten und Alternativen zu prüfen. Möglich sei etwa eine Lotterie, in der eine bestimmte Anzahl von Jugendlichen ein Interrail-Ticket gewinnt. Ebenso vorstellbar: Ein Ideenwettbewerb unter Jugendlichen für das beste Mobilitätskonzept, bei dem die Sieger Preise gewinnen.

Martin Speer begeistern diese Pläne nur bedingt. Ein Wettbewerb für alternative Konzepte sei okay, solange der Kerngedanke ihrer Idee nicht verwässert werde. „Von der Lotterie halten wir dagegen nichts – unser Vorschlag ist ja gerade, jeden zu erreichen und die Hürden fürs Reisen so niedrig wie möglich zu halten.“

Zusammen mit Vincent-Immanuel Herr will Speer nun eine Kampagne für ihre Idee starten und möglichst viele Unterstützer mobilisieren. „Wir stehen mit allen zuständigen Europaabgeordneten im Austausch und werden schon dafür sorgen, dass die Idee so schnell keiner vergisst“, sagt er. Einen wichtigen Punkt habe er mit seinem Mitstreiter Herr ohnehin schon jetzt erreicht. „Es ist doch schon einmal eine gute Nachricht, wenn es eine Idee von zwei jungen Menschen wie uns bis in die EU-Kommission schafft“, sagt er. „Das zeigt doch, dass es eben doch Zugang zum Brüsseler Raumschiff gibt und jeder mitmachen kann.“

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