IS-Nachwuchs Am liebsten ahnungslos

Wer bei der Terrormiliz IS-anheuern will, muss erst einmal einen Fragebogen ausfüllen. Abgefragt werden die Islamkenntnisse der Bewerber. Wer keine Ahnung hat, hat die besten Chancen. Aus einem einfachen Grund.

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Öffentlich beruft sich der IS ständig auf den Islam, doch tatsächlich ist den meisten Mitglieder die Religion irrelevant. Quelle: dpa

Paris Auf einem Fragebogen werden neue Rekruten aufgefordert, ihre Islamkenntnisse auf einer Skala von eins bis drei einzustufen. Wie sich herausstellt, haben die meisten von ihnen wenig Ahnung. Und das ist genau das, was sich der Islamische Staat wünscht.

Als die Terrormiliz in den Jahren 2013 und 2014 die Anheuerung von Fußsoldaten massiv vorantrieb, zielte sie nicht auf ausgeprägte Islamkenner, also Menschen, die sich in die Religion versenkt haben. Es waren Leute wie die Gruppe von Franzosen, die in ihrer Heimat mit ihrem Anwerber durch die Kneipen zogen; der kürzlich konvertierte Europäer, der sich jetzt zögernd als schwul beschreibt; und zwei Briten, die zur Vorbereitung auf den Dschihad in Syrien bei Amazon den „Koran für Dummies“ bestellten.

In einem geheimen Unterschlupf machten sich dann zahlreiche IS-Imame daran, die Wissenslücken zu füllen – im Sinne der Ziele der Extremistengruppe. Das geht aus gerichtlichen Zeugenaussagen und Interviews der Nachrichtenagentur AP hervor. Diese analysierte außerdem Tausende von IS-Dokumenten, die nach außen gelangten.

Der 32-jährige europäische Konvertit ging 2014 nach Syrien. Wie er der AP schilderte, wurden neuen Rekruten IS-Propaganda-Videos über den Islam gezeigt. Die Imame hätten wiederholt das Märtyrertum gepriesen. Fern der Heimat und mit wenig Religionskenntnissen hätten die Rekruten wenig Urteilsvermögen besessen.

„Ich habe erkannt, dass ich am falschen Ort war, als sie auf dem Fragebogen solche Sachen wissen wollten wie ‚wenn du stirbst, wen sollen wir informieren?‘“, sagt der junge Mann. Aus Furcht vor Vergeltung möchte er lieber anonym bleiben.

In den Dokumenten, die der syrischen Oppositionellen-Webseite Saman al-Wasl zugespielt und von AP eingesehen wurden, bescheinigte der IS 70 Prozent von Rekruten gerade mal „Grundwissen“ über das islamische Scharia-Recht. Ungefähr 24 Prozent besaßen der Auflistung zufolge „mittlere“ Kenntnisse, und nur fünf Prozent wurden als fortgeschrittene Studenten des Islam eingestuft.

Unter den Dokumenten waren die Fragenbögen von neun der zehn jungen Franzosen aus Straßburg, die – wie der europäische Konvertit – von einem Mann namens Murad Fares rekrutiert wurden. Einer von ihnen, Karim Mohammad-Aggad, beschrieb später in Vernehmungen seine Kneipentouren in Deutschland mit Fares. Die IS-Anwerber seien bei ihren Überzeugungsversuchen sehr geschickt gewesen.

Der Franzose reiste Ende 2013 zusammen mit seinem jüngeren Bruder und Freunden nach Syrien. Zwei von ihnen kamen dort ums Leben, sieben kehrten innerhalb weniger Monate nach Frankreich zurück und wurden festgenommen. Auch der 23-jährige Bruder Foued kam zurück in seine Heimat – als einer der Männer, die am 13. November 2015 die Konzerthalle Bataclan in Paris stürmten. In dieser Terrornacht gab es in der französischen Hauptstadt 130 Tote.


„Der Islam wurde als Falle für mich benutzt“

„Meine religiösen Überzeugungen hatten nichts damit zu tun, dass ich Frankreich verlassen habe“, sagte der ältere Bruder Karim Mohammad-Aggad den Gerichtsdokumenten zufolge. Später wird er zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. „Der Islam wurde benutzt, um mir wie bei einem Wolf eine Falle zu stellen.“

Als der Richter ihn nach seinen Scharia-Kenntnissen und nach der Rechtsanwendung des IS fragte, war der Angeklagte offenbar verdutzt. Er wisse nicht genug, um diese Frage beantworten zu können, sagte er mehrere Male.

Einer der Mitangeklagten, Radouane Taher, wurde vom Richter gefragt, ob Enthauptungen mit dem islamischen Recht im Einklang stünden. Er war sich offensichtlich nicht sicher. „Ich habe nicht die Befugnis“, antwortete er knapp.

Der frühere CIA-Beamte und Extremismus-Experte Patrick Skinner erklärt, dass die meisten, die dem IS Treue gelobten, „ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Berühmtheit, der Aufregung suchen“. Religion spiele nur eine Nebenrolle. Jene, die sich wirklich in die Religion vertiefen wollten, würden nach Al-Azhar in Kairo gehen, sagt Skinner, der derzeit für die Sicherheitsberaterfirma Soufan Group arbeitet. Al-Azhar ist eine der ältesten noch bestehenden theologischen Bildungsinstitutionen der islamischen Welt.

Der Soufan Group zufolge haben die aktivsten Unterstützer des IS häufig Identitätsprobleme und zu geringe Islamkenntnisse, um die ihnen vermittelten Ideologien infrage zu stellen.

Man muss sich nur Mohammad Ahmed und Yusuf Sarwar vor Augen führen, Freunde aus der britischen Stadt Birmingham, die sich dem IS anschlossen. Sie wurden nach ihrer Rückkehr festgenommen, und in ihrem Prozess im Jahr 2014 kam heraus, dass sie sich zur Vorbereitung auf ihre Syrienreise gleich zwei „Dummie“-Bücher – über den Islam und über den Koran – im Internet bestellt hatten.

Viele der IS-Kommandeure seien selbst keine anerkannten Islamgelehrten, sondern hätten einst unter der säkularen Regierung des irakischen Diktators Saddam Hussein höhere Ämter innegehabt, sagt Tariq Ramadan, der an der Oxford University Islamwissenschaften lehrt und zahlreiche Bücher über den Islam und die Integration von Muslimen in Europa geschrieben hat.

Islamische Gelehrte müssten den radikalen Diskurs von Gruppen wie dem IS anfechten. „Dies sind Menschen, die die Botschaft verzerren“, sagt Ramadan. „Muslime in aller Welt haben die Pflicht, sehr artikuliert darauf zu antworten.“

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