
In der Nacht zum 3. Juni blockieren bewaffnete Männer eine Autobahn an der libyschen Küste und stoppten einen weißen Lastwagen, der in Richtung Tripolis rast. Sie richten ihre Sturmgewehre auf den Fahrer. Drei von ihnen klettern auf die Ladefläche, um die Fracht zu untersuchen. Zusammen mit 85 weiteren Männern und Frauen aus Eritrea liegt dort die 24-jährige Ruta Fisehaje. Im Anhänger verstecken sich ein paar Dutzend Ägypter. Alle vereint ein Traum: Nach Europa zu gelangen.
Die Männer befehlen den Migranten, von dem Lastwagen herunterzusteigen. Sie separieren erst die Muslime von den Christen, dann die Männer von den Frauen. Diejenigen, die sich als Muslime zu erkennen geben, müssen die Schahada aufsagen, das islamische Glaubensbekenntnis. Alle Ägypter schreien die Worte wie ein Mann hinaus: "Es gibt keinen Gott außer Gott. Mohammed ist der Gesandte Gottes." Die bewaffneten Männer antworten: "Allahu Akbar".
Fisehaje wird klar, dass sie sich in der Hand der Extremistenmiliz IS befindet. Ihre Kidnapper tragen Gewänder in sandfarbenem Tarnmuster - Kleidung, die sie bei niemand anders in Libyen gesehen hat. Die meisten von ihnen verstecken ihre Gesichter hinter schwarzen Skimasken. Auf einem ihrer Pritschenwagen weht eine schwarze Fahne. "Wir waren uns sicher, dass sie uns in den Tod schicken werden", erinnert sich Fisehaje. "Wir weinten vor Verzweiflung." Die 24-Jährige ist Christin und trägt als Zeichen ihres orthodoxen Glaubens eine schwarze Perlenkette.





240.000 Migranten durchquerten Libyen seit 2014
Doch die bewaffneten Männer hatten anderes im Sinn. Denn im Kampf um mehr Macht in Libyen belohnt der IS seine Kämpfer, indem er ihnen gestattet, vom Exodus afrikanischer Migranten nach Europa zu profitieren. Seit die Gruppe Ende 2014 erstmals in Libyen auftauchte, haben rund 240.000 Flüchtlinge und Migranten das vom Bürgerkrieg zerrissene Land durchquert. In den vergangenen anderthalb Jahren verschleppten IS-Kämpfer mindestens 540 Menschen, die sie in sechs Hinterhalten gefangen nahmen. Dies berichten Migranten, die die Entführungen beobachteten und denen die Flucht nach Europa gelang.
Die IS-Kämpfer versklavten, vergewaltigten, verkauften oder tauschten mindestens 63 ihrer weiblichen Gefangenen, von denen neun ihr Schicksal der Nachrichtenagentur Reuters schilderten. Ihre Geschichten sind die ersten bestätigten Berichte darüber, wie der Islamische Staat geflüchtete Frauen zu Sexsklavinnen macht und sie als menschliche Währung benutzt, um Kämpfer in Libyen zu werben und zu belohnen. Die Extremistenmiliz geht dabei nach dem selben Muster vor, das sie bereits in Syrien und dem Irak gegen jesidische Frauen anwandte.
Libyen ist wegen seiner Nähe zu Südeuropa und seiner Lage inmitten von sechs afrikanischen Ländern der wichtigste Außenposten des IS außerhalb seines Stammgebiets im Irak und Syrien. Die Gruppe kämpft hart, um ihr Territorium dort zu verteidigen. Im August bombardierten US-Kampfjets Sirte, die Hochburg des IS in Libyen. Sie versuchten damit, die Stadt der Kontrolle der Extremisten zu entreißen, und neuen Schwung in eine festgefahrene Offensive libyscher Brigaden gegen den IS zu bringen.