So sieht ein gescheiterter Staat aus: Am Ostermontag klagte der libysche Regierungschef Fayez al-Sarraj, jetzt sei er schon zwei Wochen im Amt und könne dennoch nicht die Geschäfte aufnehmen: „Der Nationalkongress lässt uns immer noch nicht nach Tripolis einfliegen!“ In der libyschen Hauptstadt arbeitet kaum eine Behörde mehr.
Der sogenannte Nationalkongress ist ein Zusammenschluss von islamistischen Offizieren und Stammesführern, die mit Geld ihrer Freunde aus den arabischen Erdölstaaten und den Waffen des 2011 gestürzten Gaddafi-Regimes den Westen Libyens beherrschen. Regierungschef Sarraj führt auch keine Regierung, sondern einen sogenannten Präsidialrat, in den mehrere Bürgerkriegsparteien vor ein paar Monaten zweitrangige Repräsentanten entsandt haben, ohne ihnen Kompetenzen abzutreten. Sarraj und seine Leute sitzen in Tunesien fest, machtlos und noch nicht einmal in Sicherheit: Die vielen Terroranschläge der vergangenen Monate in Tunis und Umgebung gehen auf das Konto ihrer schlimmsten Feinde, der dem „Islamischen Staat“ ergebenen Terroristen.
Und so kann die Existenz eines Regierungschefs nicht darüber hinwegtäuschen: Der „IS“ kontrolliert weite Teile Libyens. Er herrscht über Erdölquellen und den großen Ölhafen Qasr Ahmed bei der Stadt Misrata. Seine Leute bedrohen die Herrschaft des Nationalkongresses in Tripoli und auch die zweite große Bürgerkriegspartei in der östlichen Grenzstadt Tobruk, deren Truppen von Ägypten unterstützt werden.
Und das alles unmittelbar vor Europas Haustür. Von Tripoli zur italienischen Insel Lampedusa sind es nur rund 160 Seemeilen über das Mittelmeer.
Die Folge: Eine neue Flüchtlingswelle Richtung Lampedusa ist schon angelaufen. Dabei handelt es sich nach Angaben der italienischen Regierung kaum um Syrer oder Iraker auf der Suche nach einer Alternative zur versperrten Balkanroute. Sondern um Afrikaner aus von Tyrannen ausgeplünderten Ländern südlich der Sahara, die in Libyen von niemandem mehr aufgehalten werden. Dass sich libysche Staatsbürger ihnen anschließen, ist bisher nur eine Horrorvorstellung. Dabei sind nach einer Schätzung des UN-Flüchtlingskommissariats schon um die zehn Prozent der 6,5 Millionen Libyer zu Flüchtlingen im eigenen Land geworden. Vor allem wohlhabendere Libyer sind vor dem Krieg auch in die Nachbarländer Tunesien und Ägypten geflohen.
Die Gegner des Islamischen Staates
Die mächtigste Militärmacht der Welt führt den Kampf gegen den IS an. Seit mehr als einem Jahr bombardiert die US-Luftwaffe die Extremisten in Syrien und im Irak. An ihrer Seite sind auch Jets aus Frankreich und anderen westlichen Staaten sowie aus arabischen Ländern im Einsatz. Washington hat zudem US-Militärberater in den Irak entsandt, die Bagdad im Kampf am Boden unterstützen.
Moskaus Luftwaffe fliegt seit Ende September Luftangriffe in Syrien. Sie sollen nach Angaben des Kremls den IS bekämpfen. Der Westen und syrische Aktivsten werfen Russland jedoch vor, die meisten Luftangriffe richteten sich gegen andere Rebellen, um so das Regime von Präsident Baschar al-Assad zu unterstützen.
Deutschland liefert seit mehr als einem Jahr Waffen an die Kurden im Norden des Iraks, darunter die Sturmgewehre G3 und G36 und die Panzerabwehrwaffe Milan. Die Bundeswehr bildet zudem kurdische Peschmerga-Kämpfer für den Kampf am Boden aus.
Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Katar und Jordanien unterstützen die USA bei den Luftangriffen. Vor allem Saudi-Arabien und Jordanien sehen den IS als Gefahr, weil die Extremisten bis an ihre Grenzen herangerückt sind.
Sowohl im Norden Syriens als auch im Nordirak gehören die Kurden zu den erbittertsten Gegnern des IS. Die kurdischen Volksschutzeinheiten (YPG) im Syrien und die Peschmerga im Irak konnten den Extremisten empfindliche Niederlagen beibringen. Unterstützt werden sie von mehreren westlichen Staaten.
Das irakische Militär geht in mehreren Regionen des Landes gegen den IS vor. Allerdings kann sie nur wenige Erfolge vorweisen. Seit Monaten versucht die Armee erfolglos, die westirakische Provinz Al-Anbar zu befreien. Unterstützt wird sie von schiitischen Milizen, die eng mit dem Iran verbunden sind.
Sie bekämpfen das Regime und den IS. Das gilt auch für die Nusra-Front, syrischer Ableger des Terrornetzwerks Al-Kaida. Sie teilt die Ideologie des IS, ist aber mit ihm verfeindet.
Auch das syrische Militär geht gegen den IS vor. Kritiker werfen dem Regime jedoch vor, es greife vor allem andere Rebellen an und lassen die Extremisten gewähren. Auffällig ist, dass sich die meisten syrischen Luftangriffe nicht gegen den IS, sondern gegen Regionen unter Kontrolle anderer Gruppen richten.
Die Flucht wird zunehmen, je stärker die brutalste der Bürgerkriegsparteien wird, also der libysche Ableger des „IS“. Gerade weil die Ultraradikalen in ihrem syrischen und irakischen Kerngebiet derzeit in die Defensive geraten sind, bekomme das sogenannte Emirat des „IS“ rund um Misrata immer mehr finanzielle Unterstützung durch geldschwere Hintermänner in reichen arabischen Staaten, meint der „IS“-Experte Peter Neumann vom Londoner King’s College. Zusammen mit der neuen „IS“-Strategie der Terroranschläge in europäischen Hauptstädten klingt das extrem bedrohlich.
"Der Schwerpunkt des 'IS' verlagert sich von Syrien nach Libyen"
Da braut sich eine Gefahr zusammen, neben der wirtschaftliche Sorgen fast banal klingen. Dabei ist Libyen ein Land, das seit Jahrzehnten wichtig für das Wohlergehen der europäischen und gerade der deutschen Wirtschaft war. Noch 2010, im letzten Jahr des Gewaltherrschers Gaddafi, kamen gut zehn Prozent der deutschen Erdölimporte aus Libyen. 2012, das Land schien nach dem Umsturz und der westlichen Militärintervention befriedet, waren es immer noch neun Prozent. Dann war wieder Krieg, und die Förderung sank innerhalb eines Jahres um zwei Drittel. 2015 kamen weniger als zwei Prozent der deutschen Ölimporte aus Libyen, im Augenblick liegen die Einfuhren zumindest offiziell bei null.
Die 7 Geldquellen des IS
Die BASF-Tochter Wintershall, seit Jahrzehnten das führende deutsche Unternehmen im libyschen Ölgeschäft, hat die ausländischen Mitarbeiter schon vor Jahren aus dem Land abgezogen. „Die Sicherheit von Mitarbeitern, ihren Familien sowie den Produktionsanlagen hat höchste Priorität“, sagt Unternehmenssprecher Stefan Leunig. Etwa 500 Libyer stehen weiter in den Diensten des Unternehmens aus Kassel. Zu tun haben diese Mitarbeiter derzeit wenig bis nichts: Nach vielen kriegsbedingten Unterbrechungen stellten 2015 die Ölhäfen an der libyschen Küste endgültig ihre Tätigkeit für Wintershall ein. Manche Anlagen waren zerstört, anderswo wurde in der Nähe gekämpft, und das „IS“-Gebiet um Misrata riegelte sich sowieso vom Rest des Landes und den Ölquellen in der Wüste ab.
Immerhin sind Förderanlagen im Krieg kaum zerstört worden. „Die Situation an den Produktionsstätten in der Wüste ist ruhig“, berichtet Leunig. Wenigstens etwas.