Islamisten an der Macht Erdogan und die AKP begraben die säkulare Türkei

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Deutschland gibt Erdogan Rückendeckung

Wir können heute vom Ende der säkular-kemalistischen Türkei sprechen. Lassen wir uns nicht von Ablenkungsmanövern irreleiten: Der gescheiterte Militärputsch hat zum totalitären Gegenputsch der Erdogan-AKP gegen den Kemalismus, nicht gegen Gülen, geführt. Nach dem 15. Juli hat Erdogan den Ausnahmezustand in der Türkei erklärt; er schafft somit nicht nur schleichend, sondern offen den nur noch formal bestehenden Rechtsstaat ab. Einen Tag später legte er nach: Dieser Ausnahmezustand könne länger als drei Monate dauern – also praktisch ein Dauerzustand werden. Das war eigentlich gar nicht nötig, weil Erdogan seit Jahren diktatorisch regiert.

Doch es ist die Diktatur einer islamistischen Partei, nicht die Autokratie einer Person, wie westliche Medien suggerieren. Wenn heute deutsche Islamwissenschaftler einen alten Begriff aus ihrer Mottenkiste ziehen, um Erdogan als neuen Sultan zu charakterisieren, dann liegen sie falsch. Das Sultanat hat mit totalitärer Herrschaft nichts zu tun.

Seit 2002 klagen türkische Demokraten darüber, dass man in der Türkei unter der AKP nicht mehr öffentlich frei sprechen kann. Journalisten wurden in den vergangenen zehn Jahren zu Dutzenden ohne Prozess ins Gefängnis verschleppt. Was ist das für ein Rechtsstaat, mit dem die EU seit 2005 über einen Beitritt zur EU verhandelt?

Es ist erstaunlich wie Politiker der EU über den Ausnahmezustand staunen, ohne zu wissen, wie die türkische Realität aussieht. Die EU hat einen erheblichen Anteil an der Stärkung der Macht der AKP Erdogans. Das gilt auch für Deutschland, dessen Kanzlerin am Tage des Putsches eine offizielle Solidaritätsbotschaft an die türkische Regierung schickte. Die Begründung, Erdogan sei „gewählter Präsident“, gab der AKP-Herrschaft praktisch Rückendeckung.

Zu den Beweisen, dass die Putschisten vom 15. Juli keine Gülen-Anhänger waren, zählt dies: Von einem besetzten zentralen TV-Sender ließen die rebellischen Offiziere eine Moderatorin eine Verlautbarung verlesen, wonach sie sich gegen Diktatur und Islamisierung erheben. Das ist kemalistischer Jargon und nicht die Sprache von Gülen. Europäische Politiker, die heute mit Krokodilstränen auf die Erklärung des Ausnahmezustandes reagieren, haben einen Tag nach dem Ersticken des Widerstandes Erdogans Politik als „Sieg der Demokratie“ gefeiert. Unmittelbar danach wurden nicht nur die kemalistische Führung der türkischen Streitkräfte, sondern darüber hinaus ca. 5000 kemalistische Richter und Staatsanwälte sowie hunderte von Journalisten verhaftet. Ein Sieg der Demokratie? 

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