Islamisten an der Macht Erdogan und die AKP begraben die säkulare Türkei

Der Regierungsbericht über die Türkei als „zentrale Aktionsplattform“ für Islamisten kann nicht überraschen. Die AKP war stets islamistisch. Ihr eigentlicher Gegner ist nicht die Gülen-Bewegung sondern der säkulare Kemalismus, den sie jetzt vernichtet.

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Erdogan-Unterstützerinnen auf dem Istanbuler Taksim-Platz am 10. August 2016. Quelle: AP

In ihrem Augustheft hat die Zeitschrift „Cicero“ einen fragwürdigen aus dem amerikanischen übersetzten Artikel veröffentlicht. Dov Zokheim schreibt darin, dass die Türkei nach dem 15. Juli 2016 nicht mehr das Land sei, welches der Westen als NATO-Verbündeter kennt. Warum diese Experten-Klugheit erst jetzt? Ist das „Böse“ und Unberechenbare nur eine persönliche Eigenart in der unsympathischen Person Erdogan? Zokheim, der auch im US-Verteidigungsministerium diente, vermittelt eben diesen Eindruck. Tatsächlich aber geht es nicht um die Person Erdogan, sondern um die Partei, mit der er regiert – die AKP – und um deren politische Orientierung. Warum wird die AKP in den westlichen Medien islamisch-konservativ genannt und nicht islamisch-fundamentalistisch, was sie wirklich ist?

Zur Person

Die AKP gehört zur Geschichte des politischen Islam in der Türkei, die insgesamt fünf Parteien umfasst: Nizam Partisi (1970), Selamet Partisi (1973), Refah Partisi (1983), Fazilit Partisi (1997); die 2001 gegründete AKP ist das fünfte Glied in der Kette dieser Parteiengeschichte. Ein Jahr später, 2002, gelang es ihr auf formal demokratische Weise, die Macht zu erobern, die sie bis heute innehat. Es gibt eine politische Kontinuität von der Nizam Partisi bis zur AKP und auch eine Kontinuität innerhalb der Geschichte der AKP. Sie hatte 2002 dieselbe Agenda wie heute. Die aktuellen Ereignisse in der Türkei gehören zu einem Prozess, der nicht am 15. Juli, sondern bereits 2002 mit der Machteroberung durch die AKP begonnen hat. Dieser Prozess heißt: Entkemalisierung von Staat und Gesellschaft. Die AKP hat im vergangenen Jahrzehnt genug Macht erlangt, um sich nicht mehr verstecken zu müssen. Der Putsch markiert das endgültige Ende des Kemalismus.

Die These dieses Artikels lautet, dass der zentrale Konflikt in der Türkei ein solcher zwischen Islamismus und Kemalismus ist – und nicht ein Show-Down zwischen Erdogan und Gülen. Die Auseinandersetzung mit der Gülen-Bewegung ist nur ein Nebenschauplatz. Alle Indizien sprechen dafür, dass die Putschisten säkulare Kemalisten waren. Die AKP versucht nun davon abzulenken.

Ideologisch gibt es keine großen Unterschiede zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung: Beide gehören zum institutionellen Islamismus. Der wichtigste Unterschied zwischen dem djihadistischen und dem institutionellen Islamismus besteht in der Wahl der Mittel. Institutionelle Islamisten wie die AKP und gleichermaßen die Gülen-Bewegung treten für den friedlichen Marsch durch die Institutionen ein, wohingegen die Djihadisten Gewalt als Mittel der Machteroberung einsetzen. Wenn es um das Ziel geht, nämlich die Errichtung des islamischen Scharia-Staates, gibt es keine Unterschiede.

AKP-Ziel: Abschaffung des Kemalismus

Zum Verständnis des zentralen Konflikts in der Türkei sei daran erinnert, dass der Kemalismus die Staatsphilosophie des Gründers der modernen Türkei Kemal Atatürk ist; sie fußt auf folgenden sechs Prinzipien: 1. Republikanismus, 2. Etatismus, also der Staat als Träger des Wandels, 3. Populismus, und zwar im Sinne von Rousseaus volonté general und nicht im Sinne des Schwachsinns, der im deutschsprachigen Raum dem Begriff zugeschrieben wird, 4. Laizismus, orientiert am französischen Gesetz von 1905 als „lois en France“, d.h. Trennung von Religion und Politik und säkulare Neutralisierung der öffentlichen Sphäre, 5. Nationalismus für alle Türken ohne ethnische Untergliederung und schließlich 6. Reformismus.

Der Ursprung des Kemalismus ist die 1923 gegründete kemalistisch-säkulare Republik, die bis zum formal demokratisch legitimierten Machtaufstieg der AKP 2002 andauerte. Die Türkei war der modernste, fortschrittlichste und demokratischste aller 57 Staaten der islamischen Zivilisation.

Zwischen 1993 und 2008 habe ich regelmäßig die Türkei besucht, dort Vorlesungen gehalten und als Gastprofessor gelehrt. Hierbei habe ich kemalistische Türken als fortschrittliche Modernisierer erlebt. Deshalb empöre ich mich unendlich über deutsche Publizisten, die den Kemalismus mit Faschismus gleichsetzen (so zum Beispiel in einer TV-Dokumentation). Es ist deutscher Schwachsinn, andere Kulturen mit der Brille der eigenen NS-Vergangenheit zu betrachten. Für liberale Muslime, die im Kemalismus ein Modell für die gesamte Zivilisation sehen, erscheint es als eine deutsche Impertinenz, Kemal Atatürk mit Nazi-Schmutz zu bewerfen. Es ist richtig: Atatürk war kein Jefferson’scher Demokrat. Und dennoch bleibt er der größte Modernisierer in der Welt des Islam seit der Krise der islamischen Zivilisation im 19. Jahrhundert.

Ich habe in der Türkei vier Bereiche beobachtet, die als gesellschaftliche Grundlage des Kemalismus gelten: 1. säkulare Justiz, 2. die an Staatsräson orientierte säkulare Armee (ich habe mehrfach im Rahmen von NATO-Projekten in der Türkei unter türkischen Offizieren gelebt und mir ist kein einziger Faschist unter ihnen begegnet; diese Offiziere bekommen eine staatsbürgerliche Erziehung in Demokratie und Laizismus – das ist kein Faschismus); 3. Institutionen der säkularen kemalistischen Erziehung (Schule, Universität); 4. der Sicherheitsapparat.

Schlüsselstaat Türkei

Seit ihrer Machteroberung 2002 betreiben AKP-Islamisten eine systematische Politik zunächst der Schwächung, dann der Abschaffung des Kemalismus. Die erwähnten vier islamistischen Vorgängerparteien wurden durch das Verfassungsgericht mit der begründeten Beschuldigung der Verfassungsfeindlichkeit verboten. Auch gegen die AKP hatte die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Verdachts auf Islamismus eingeleitet. Bei der Entscheidung im Verfassungsgericht fehlte eine einzige Stimme. Alle betroffenen Staatsanwälte und Richter sitzen heute im Gefängnis. Die Reue wird den Verfassungsrichtern nicht helfen. Mit einer einzigen Stimme hätte man das AKP-Erdogan-Unheil vorab unterbinden können.

Zum Vergleich: Wenn die Militärs in Ägypten die Herrschaft der Muslim-Bruderschaft unter Präsident Mohammed Mursi nicht beendet hätten, wäre Ägypten wie die Türkei heute. Ich lehrte im März und April dieses Jahres an der American University of Cairo und stellte fest, dass die Mehrheit der Ägypter glücklich über das Ende der islamistischen Herrschaft der Muslimbrüder ist.

Die Putschisten waren Kemalisten, nicht Gülen-Anhänger

EU-Politiker weigern sich, diese Realitäten zur Kenntnis zu nehmen und haben der AKP-Türkei 2005 durch Beitrittsverhandlungen die Tür zur EU geöffnet, ohne zu wissen, was sie hereinlassen. Die Ereignisse nach dem Putschversuch veranlassen dieselben EU-Politiker, die Tür wieder zu verschließen, ohne dies offen auszusprechen. Der Einzige, der dies tut, ist der dreißigjährige Außenminister Österreichs Sebastian Kurz. Hierfür erntete er den Vorwurf der islamistischen AKP, er und ähnlich denkende EU-Politiker seien Rechtspopulisten. Es ist lächerlich, dass gerade die fundamentalistische AKP sich einer Sprache bedient, die sonst europäische Linke gegen ihre Kritiker benutzen. 

Nochmals: Der gescheiterte Putsch des Militärs vom 15. Juli ist nicht von der Gülen-Bewegung, sondern von kemalistischen Militärs durchgeführt worden – leider dilettantisch. Was die AKP im faschistischen Jargon „Säuberung“ nennt, zielt nicht nur auf die Gülen-Bewegung, sondern auch und vor allem auf die Kemalisten in Justiz und Streitkräften. Mich hat es erschüttert, in den ZDF-Nachrichten einen EU-Politiker zu sehen, der in Ankara den AKP-Politikern das Verständnis der EU für „Säuberungen“ übermittelt, jedoch mit der Bitte, dies müsse „rechtsstaatlich vollzogen werden“. Säuberungen rechtsstaatlich? Wie?

Wenn ich stets wiederhole, dass der Konflikt nicht zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung stattfindet, dann muss ich auf diese islamistische Bewegung eingehen. Ich weiß als Türkei-Experte, wie gefährlich sie ist und dass sie gleichsam wie eine Giftschlange schleichend handelt. Man sieht diese Schlange nicht, sondern fühlt sie erst, wenn sie beißt und ihr Gift einfließt.  Nun ist der heute im US-Exil lebende Prediger Gülen global gesehen mächtiger und bei weitem intelligenter als Erdogan. Er ist eigentlich ein weitaus gefährlicherer Islamist als Erdogan. Bayram Balci belegt in seiner Dissertation, dass die Gülen-Bewegung zunächst eine Islamisierung der Türkei und dann eine globale Verbreitung des Islam als Ziel verfolgt. Die Stärke der Gülen-Bewegung ist das leise Hineinschleichen in Institutionen auf der Basis der islamistischen Indoktrination vor allem in Schulen. Nach außen zeigt sie ein anderes Gesicht, nämlich das des „Dialogs der abrahamitischen Religionen“. In diesem Rahmen ist es Gülen sogar gelungen, eine Audienz beim Papst zu bekommen, welche als Propaganda verwendet wird.

Gülen und Erdogan waren bis 2013 Freunde und Verbündete. Rachel Sharon-Krespin weist in ihrem Aufsatz „Fethullah Gülen‘s Grand Ambition“ (Middle East Quarterly) anhand türkischer Quellen nach: AKP und Gülen-Bewegung verfolgen dieselben Ziele und haben dieselbe Ideologie. Die seit 2013 bestehende Feindschaft zwischen Erdogan und Gülen ist lediglich eine innerislamistische persönliche Fehde, aber kein politischer Konflikt.

Unbequeme Warnungen wurden ignoriert

Es liegt mir also fern, die Gülen-Bewegung zu verharmlosen. Dennoch schließe ich mit absoluter Sicherheit aus, dass die abertausenden festgenommenen Offiziere, Richter und Staatsanwälte Gülen-Anhänger sind. Nein, diese sind säkulare Kemalisten und keine Gülen-Islamisten. Ich weiß, wie kemalistisch, d.h. wie laizistisch Militär und Justiz in der Türkei sind. Das ist eine jahrzehntelang verankerte Tradition.  

Ich wiederhole: Der Hauptkonflikt findet zwischen Islamismus und Kemalismus statt. Die AKP-Erdogan-Propaganda, die kritiklos von den westlichen Medien übernommen wird, lenkt von diesem Konflikt ab. Es geht nicht um die Gülen-Bewegung, es geht um die Entkemalisierung der Türkei.

Drei weitere Erkenntnisse sind von zentraler Bedeutung für das Verständnis dessen, was heute in der Türkei geschieht:

Warum war der Westen von der jüngsten Entwicklung überrascht? Ich erlaube mir eine Analogie mit der Finanzkrise. Damals schrieb die Financial Times: "People ignore predictions they dislike." Ich, als ein auf Englisch und Deutsch publizierender Türkei-Experte, habe das am eigenen Leib erfahren. Im Jahre 2005 habe ich mein Buch „Mit dem Kopftuch nach Europa. Die Türkei auf dem Weg in die Europäische Union“ veröffentlicht und musste entweder feindliche Kommentare oder totales Ignorieren ertragen. 11 Jahre später lässt sich das Buch lesen, als wäre es gerade erst erschienen. Der türkischstämmige grüne Politiker Cem Özdemir gehörte zu denen, die meine Warnungen schlicht und grob diskreditierten. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hat er damals die AKP verteidigt. Heute benötigt er Personenschutz gegen die AKP-Chargen in Deutschland. Ich empfinde keine Schadenfreude, sondern nur Bedauern. Manche lernen, andere nie!

Die zweite Bemerkung betrifft die politische Sprache in Deutschland. Ich beziehe mich vor allem auf den Begriff Populismus, den Linke und Grüne gegen „unbequeme Gedanken“ (Adorno) wie ein Schwert erheben, um Schweigen zu erzwingen. Die AKP-Islamisten sind „smart people“ und verfolgen genau, was im Westen geschieht. Nun haben sie zusätzlich zu dem Vorwurf der Islamophobie auch den des Populismus von europäischen Linken gelernt, den sie gegen sich offen artikulierende Politiker wie den österreichischen Bundeskanzler Kern und seinen Außenminister Kurz verwenden. Reicht dieses Beispiel nicht aus, um die schändliche Keule „Populismus“ zugunsten von sachlichen Argumenten aus dem Verkehr zu ziehen?

Die AKP verschleierte ihre Ziele

Die dritte Erkenntnis betrifft die AKP selbst. Bisher haben sich deutsche Wissenschaftler, Politiker und Journalisten gleichermaßen die AKP-Täuschung zu Eigen gemacht, mit der sie sich nach außen als demokratische Partei präsentierte, genauer gesagt: als Parallele zur deutschen CDU. Ich habe dagegen die AKP seit ihrer Gründung 2001 als islamisch-fundamentalistisch erkannt und sie in die oben angeführte Geschichte der fünf islamistischen Parteien eingeordnet. Zu dieser dritten Erkenntnis gehört die Einschätzung des Verhältnisses von Islamismus zu Demokratie. Im Jahr 2000 sagte Erdogan: „Die Demokratie ist ein Zug, in den wir einsteigen, bis wir unser Ziel erreichen.“ Heute erleben Europäer diese Geisteshaltung offen.

Diese dritte Erkenntnis zeigt: Islamismus und Demokratie „do not mix“, wie man im Amerikanischen sagt. Einer der größten außenpolitischen Fehler der Obama-Administration war und bleibt die enge Zusammenarbeit mit friedlichen Islamisten, von den ägyptischen Muslimbrüdern bis hin zur AKP. Dies tat Obama in der Illusion, die friedlichen Islamisten gegen die djihadistischen Islamisten für die eigene Politik zu mobilisieren. Er nahm dafür in Kauf, im Bündnis mit Islamisten gegen die alten Verbündeten, also gegen die Kemalisten, zu operieren.

"Blutvergießen in der Türkei muss ein Ende haben"
Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: dpa
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Quelle: AP
Europaparlaments-Präsident Martin Schulz Quelle: dpa
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hat sich „zutiefst beunruhigt“ über den Putschversuch in der Türkei geäußert. „Alle Versuche, die demokratische Grundordnung der Türkei mit Gewalt zu verändern, verurteile ich auf das Schärfste“, sagte Steinmeier in einer ersten offiziellen Reaktion am Samstag in Berlin. Quelle: dpa
Angela Merkel geht in Ulan Bator beim Asien-Europa-Gipfel zusammen mit Regierungssprecher Steffen Seibert zu einer Sitzung. Quelle: dpa
Außenminister Frank-Walter Steinmeier Quelle: dpa
türkische Soldaten am Taksim-Platz in der Nacht zu Samstag Quelle: dpa

Im westlichen Raum gehöre ich zu den Türkei-Experten, die seit mehreren Jahrzehnten vor dem Islamismus gewarnt haben. Ich wurde deshalb aus dem Verkehr gezogen; bekam einen Maulkorb verpasst, weil ich in zwei Büchern – „Aufbruch am Bosporus. Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus“ (1998) sowie „Mit dem Kopftuch nach Europa. Die Türkei auf dem Wege zur Europäischen Union“ (2005) – vor dem türkischen Islamismus gewarnt habe.

Ich tat dies auch in den USA: in meinem Artikel „Turkey’s Islamist Danger. Islamists Approach Europe“, der 2009 in der einflussreichen Zeitschrift „Middle East Quarterly“ erschien. Dieser Artikel veranlasste den von der AKP beherrschten Hochschulrat der Türkei, die Annullierung eines Rufes auf eine türkische Professur zum Aufbau von Middle Eastern Studies an der Bilkent University in Ankara anzuweisen. Dort hatte ich 1995 und 1998 als Visiting Professor gelehrt. Mir wurde von der AKP Islamophobie und Hetzerei vorgeworfen. Der Hochschulrat hat auf Anweisung des Büros von Erdogan gehandelt. Seitdem reise ich nicht mehr in die Türkei, weil ich dort auf der schwarzen Liste stehe.

Deutschland gibt Erdogan Rückendeckung

Wir können heute vom Ende der säkular-kemalistischen Türkei sprechen. Lassen wir uns nicht von Ablenkungsmanövern irreleiten: Der gescheiterte Militärputsch hat zum totalitären Gegenputsch der Erdogan-AKP gegen den Kemalismus, nicht gegen Gülen, geführt. Nach dem 15. Juli hat Erdogan den Ausnahmezustand in der Türkei erklärt; er schafft somit nicht nur schleichend, sondern offen den nur noch formal bestehenden Rechtsstaat ab. Einen Tag später legte er nach: Dieser Ausnahmezustand könne länger als drei Monate dauern – also praktisch ein Dauerzustand werden. Das war eigentlich gar nicht nötig, weil Erdogan seit Jahren diktatorisch regiert.

Doch es ist die Diktatur einer islamistischen Partei, nicht die Autokratie einer Person, wie westliche Medien suggerieren. Wenn heute deutsche Islamwissenschaftler einen alten Begriff aus ihrer Mottenkiste ziehen, um Erdogan als neuen Sultan zu charakterisieren, dann liegen sie falsch. Das Sultanat hat mit totalitärer Herrschaft nichts zu tun.

Seit 2002 klagen türkische Demokraten darüber, dass man in der Türkei unter der AKP nicht mehr öffentlich frei sprechen kann. Journalisten wurden in den vergangenen zehn Jahren zu Dutzenden ohne Prozess ins Gefängnis verschleppt. Was ist das für ein Rechtsstaat, mit dem die EU seit 2005 über einen Beitritt zur EU verhandelt?

Es ist erstaunlich wie Politiker der EU über den Ausnahmezustand staunen, ohne zu wissen, wie die türkische Realität aussieht. Die EU hat einen erheblichen Anteil an der Stärkung der Macht der AKP Erdogans. Das gilt auch für Deutschland, dessen Kanzlerin am Tage des Putsches eine offizielle Solidaritätsbotschaft an die türkische Regierung schickte. Die Begründung, Erdogan sei „gewählter Präsident“, gab der AKP-Herrschaft praktisch Rückendeckung.

Zu den Beweisen, dass die Putschisten vom 15. Juli keine Gülen-Anhänger waren, zählt dies: Von einem besetzten zentralen TV-Sender ließen die rebellischen Offiziere eine Moderatorin eine Verlautbarung verlesen, wonach sie sich gegen Diktatur und Islamisierung erheben. Das ist kemalistischer Jargon und nicht die Sprache von Gülen. Europäische Politiker, die heute mit Krokodilstränen auf die Erklärung des Ausnahmezustandes reagieren, haben einen Tag nach dem Ersticken des Widerstandes Erdogans Politik als „Sieg der Demokratie“ gefeiert. Unmittelbar danach wurden nicht nur die kemalistische Führung der türkischen Streitkräfte, sondern darüber hinaus ca. 5000 kemalistische Richter und Staatsanwälte sowie hunderte von Journalisten verhaftet. Ein Sieg der Demokratie? 

Der Westen hat die Islamisten unterschätzt

Es folgten zahlreiche Repressionen in der Türkei sowie tausendfache Verhaftungen und Entlassungen. Alle Kemalisten werden zu Terroristen abgestempelt. Im Sog dieser totalitären Politik wurde auch gegen den gesamten Lehrkörper aller türkischen Universitäten ein Ausreiseverbot verhängt. 1933 konnten meine jüdischen Lehrer Adorno und Horkheimer und viele andere Demokraten Deutschland ungehindert verlassen. Erdogans Anhänger nicht nur in der Türkei – auch die 40.000  in Köln – fordern die Todesstrafe für seine Gegner. Erdogan selbst hat Anfang August vor einer Million Menschen in Istanbul die Todesstrafe gefordert, parallel nannte er die EU-Ablehnung seiner Politik: Islamophobie. Dieser Begriff ist zu einem Propaganda-Instrument der Islamisten herabgesunken.  

Zur Illustration meiner These, dass die westliche Politik die türkische Politik nicht versteht, folgende Erinnerung. Im Jahre 2000 war ich zusammen mit dem damals amtierenden sozialdemokratischen Ministerpräsidenten der Türkei Bülent Ecevit in einem Workshop beim World Economic Forum in Davos. Dort führten wir gemeinsam ein Streitgespräch mit den anwesenden westeuropäischen Politikern. Diese haben auf der Basis fehlenden Wissens gegenüber Ecevit unnachgiebig darauf bestanden, dass die Türkei nur dann eine Chance bekommt, Mitglied der EU zu werden, wenn sie die Machtbefugnisse des Nationalen Sicherheitsrates einschränkt. In diesem Rat konnten früher die kemalistischen Militärs fast gleichberechtigt mit Staatsjustiz und führenden Politikern Entscheidungen treffen. Außer mir schien in Davos niemand die Botschaft von Ecevit zu verstehen. Er sagte: „Wir in der Türkei sind eine junge säkular-demokratische Republik in der Welt des Islam, die noch keine soliden Fundamente für Demokratie und Säkularität im Sinne der Trennung von Religion und Politik hat. Unter diesen Bedingungen kann unsere Republik nur dann Bestand haben, wenn Kemalisten, einschließlich Militär und Justiz, die Macht behalten, für Stabilität und Säkularität zu sorgen“.

Nur zwei Jahre danach endete dieser Zustand, als die AKP an die Macht kam. Zu den Ergebnissen des EU-Druckes auf die Türkei gehört die Schwächung aller Elemente der staatstragenden kemalistischen Kräfte zugunsten einer wohl nicht bezweckten Stärkung des Islamismus. Es ist keineswegs eine Verschwörungstheorie zu behaupten, dass die islamistische AKP ihren Aufstieg zur Macht auch der EU und teilweise den USA verdankt. Die Fehleinschätzung des Islamismus ist eines der dunkelsten Kapitel der Beziehung des Westens zur Welt des Islam.

Die Türkei ist für den Westen verloren

Sowohl die AKP als auch die Gülen-Bewegung haben gemeinsam bis 2013 das kemalistisch-säkulare Erziehungssystem demontiert. Unter der AKP wurde das bereits bestehende islamistische Bildungssystem der Imam-Hatip-Schulen (Imam Hatip bedeutet „der predigende Imam“) ausgebaut. Dieses System ist heute der Ort der Rekrutierung von islamistischen Gegeneliten gegen die kemalistisch-säkularen Eliten. Schüler lernen in den Imam-Hatip-Schulen Arabisch statt Englisch und Französisch; sie werden religiös indoktriniert statt modernes säkulares Wissen vermittelt zu bekommen. Auch Erdogan ist Absolvent einer Imam-Hatip-Schule. Die islamistischen Eliten sind seit 2002 an der Macht und haben die Kemalisten vertrieben; sie werden die exklusive politische Elite der Türkei bilden. 

Was sind die Zukunftsperspektiven?

Erdogan ist ein Vollstrecker der Agenda des Islamismus der AKP, also einer totalitären Partei. Die AKP verfügt über ein riesiges Wirtschaftsunternehmen und das ist nicht mit der Person Erdogans zu identifizieren. Angesichts der Tatsache, dass ethnische Kurden und die Aleviten zusammen mindestens 40 Prozent der türkischen Bevölkerung ausmachen und gegen die AKP sind, ist es eine Frage der Zeit, bis diese sich erheben. Auf rein ethnisch-türkisch-sunnitischer Basis wird die AKP die Stabilität der Türkei langfristig nicht aufrechterhalten können.

Global gesehen muss ich als säkular denkender Muslim und Bewunderer des Kemalismus festhalten, dass die Türkei für den Westen, vor allem für Europa ein verlorenes Land und kein Partner mehr ist. Der Verlust gilt auch für die säkularen Muslime, für die die Türkei bisher als ein Modell galt. Es ist vorbei. Eine säkulare Staatsordnung, in der eine Trennung zwischen Religion und Politik vorhanden ist, hat die AKP begraben. Dieses Modell ist gescheitert zugunsten des „islamischen Staates“. Das ist besonders für Europa folgenreich. 60 Prozent der in Deutschland lebenden Türken haben die AKP gewählt.

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