
In ihrem Augustheft hat die Zeitschrift „Cicero“ einen fragwürdigen aus dem amerikanischen übersetzten Artikel veröffentlicht. Dov Zokheim schreibt darin, dass die Türkei nach dem 15. Juli 2016 nicht mehr das Land sei, welches der Westen als NATO-Verbündeter kennt. Warum diese Experten-Klugheit erst jetzt? Ist das „Böse“ und Unberechenbare nur eine persönliche Eigenart in der unsympathischen Person Erdogan? Zokheim, der auch im US-Verteidigungsministerium diente, vermittelt eben diesen Eindruck. Tatsächlich aber geht es nicht um die Person Erdogan, sondern um die Partei, mit der er regiert – die AKP – und um deren politische Orientierung. Warum wird die AKP in den westlichen Medien islamisch-konservativ genannt und nicht islamisch-fundamentalistisch, was sie wirklich ist?
Zur Person
Bassam Tibi , 72, ist gebürtiger Syrer, der einer der ältesten Notabelnfamilien, den Banu al-Tibi, in Damaskus entstammt. Er lehrte 37 Jahre lang als Professor an der Uni Göttingen und nahm parallel dazu 18 Gastprofessuren im Nahen Osten, Südostasien, Westafrika sowie u.a. in Harvard, Berkeley und Cornell wahr. Der Autor von 30 Büchern in deutscher und 11 Büchern in englischer Sprache über Islamismus, Islam und Nahost ist der Begründer der Wissenschaft der Islamologie und Vertreter des Euro-Islam. Zuletzt erschienen: Europa ohne Identität? Europäisierung oder Islamisierung
Die AKP gehört zur Geschichte des politischen Islam in der Türkei, die insgesamt fünf Parteien umfasst: Nizam Partisi (1970), Selamet Partisi (1973), Refah Partisi (1983), Fazilit Partisi (1997); die 2001 gegründete AKP ist das fünfte Glied in der Kette dieser Parteiengeschichte. Ein Jahr später, 2002, gelang es ihr auf formal demokratische Weise, die Macht zu erobern, die sie bis heute innehat. Es gibt eine politische Kontinuität von der Nizam Partisi bis zur AKP und auch eine Kontinuität innerhalb der Geschichte der AKP. Sie hatte 2002 dieselbe Agenda wie heute. Die aktuellen Ereignisse in der Türkei gehören zu einem Prozess, der nicht am 15. Juli, sondern bereits 2002 mit der Machteroberung durch die AKP begonnen hat. Dieser Prozess heißt: Entkemalisierung von Staat und Gesellschaft. Die AKP hat im vergangenen Jahrzehnt genug Macht erlangt, um sich nicht mehr verstecken zu müssen. Der Putsch markiert das endgültige Ende des Kemalismus.
Die These dieses Artikels lautet, dass der zentrale Konflikt in der Türkei ein solcher zwischen Islamismus und Kemalismus ist – und nicht ein Show-Down zwischen Erdogan und Gülen. Die Auseinandersetzung mit der Gülen-Bewegung ist nur ein Nebenschauplatz. Alle Indizien sprechen dafür, dass die Putschisten säkulare Kemalisten waren. Die AKP versucht nun davon abzulenken.
Ideologisch gibt es keine großen Unterschiede zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung: Beide gehören zum institutionellen Islamismus. Der wichtigste Unterschied zwischen dem djihadistischen und dem institutionellen Islamismus besteht in der Wahl der Mittel. Institutionelle Islamisten wie die AKP und gleichermaßen die Gülen-Bewegung treten für den friedlichen Marsch durch die Institutionen ein, wohingegen die Djihadisten Gewalt als Mittel der Machteroberung einsetzen. Wenn es um das Ziel geht, nämlich die Errichtung des islamischen Scharia-Staates, gibt es keine Unterschiede.