Island Zwischen EM-Euphorie und Panama Papers

Am Samstag wählen die Isländer einen neuen Präsidenten – wegen der Fußball-EM auch in Frankreich. In Umfragen führt ein Historiker. Seine Popularität verdankt er dem Panama-Papers-Skandal.

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Islands Nationalmannschaft ist am Mittwoch ins EM-Achtelfinale gezogen – zur großen Begeisterung der Bevölkerung. Darüber ist die Wahl am Samstag etwas in den Hintergrund geraten. Quelle: AP

Reykjavík Die Isländer sind in diesen Tagen in Jubellaune. Dass ihre Nationalmannschaft am Mittwoch mit einem Sieg gegen Österreich ins EM-Achtelfinale gezogen ist, hat zu wilden Begeisterungsstürmen geführt. Doch bevor es am Montag gegen England geht, wird es am Samstag ernst: Das kleine Land mit seinen knapp 330.000 Einwohnern wählt einen neuen Präsidenten. „Dass da oben kein Idiot das Sagen bekommt“, sei den meisten Isländern genau so wichtig, wie in der Europafußballmeisterschaft mitzuspielen, sagt der eingefleischte Fußballfan Bragi Brynjarsson.

Wie Tausende andere fliegt der 48-Jährige am Wochenende nach Nizza, um sein Team gegen England live spielen zu sehen. Bis zu 30.000 isländische Fußballfans sollen sich zurzeit in Frankreich aufhalten. Damit die trotzdem ihre Stimme abgeben können, hat sich das isländische Innenministerium kurzerhand entschieden, im Camp der Nationalmannschaft in Annecy ein Wahllokal einzurichten.

Und das ist gut so, denn bei all dem Fußballfieber ist es vielen wichtig, dass sie ihre Stimme abgeben können. Die bisherigen Amtsträger haben sie enttäuscht. Dass der Name ihres Regierungschefs Sigmundur David Gunnlaugsson im Zusammenhang mit den Enthüllungen über Briefkastenfirmen auftauchte, brachte die Isländer im April auf die Palme.

Gepaart mit seinem haarsträubenden Auftritt in einer Fernsehshow ließ das für die Inselbewohner nur einen Schluss zu: Ihr Ministerpräsident hatte Dreck am Stecken. Und das, wo sich das Vertrauen der Isländer in ihren Politikbetrieb nach der Finanzkrise 2008 gerade erst erholt hatte. Nachdem Zehntausende tagelang vor dem Parlament in Reykjavík protestiert und das Gebäude mit Eiern und Bananen beworfen hatten, trat Gunnlaugsson widerwillig zurück.

Islands Präsident Ólafur Ragnar Grímsson hatte ursprünglich vor, sich noch mal zur Wahl zu stellen. Im Zuge der Panama-Papers-Affäre dachte er um und erklärte Anfang Mai, doch kein sechste Amtszeit anzustreben. Denn die Dokumente legen nahe, dass die Familie seiner Frau in Steueroasen investiert haben soll. Grímsson bestritt ein Fehlverhalten.

Jüngere Isländer können sich an niemand anderen in dem Amt erinnern als an ihn: Grímsson ist seit 1996 Islands Präsident, seine Landsleute wählten ihn zuletzt 2012 wieder. Für die Isländer beginnt damit eine ganz neue Ära.

Bei der Präsidentenwahl treten unter anderem ein Lkw-Fahrer, eine Krankenpflegerin und ein Schriftsteller an. Die größten Chancen, neues Staatsoberhaupt Islands zu werden, hat der Historiker Gudni Th. Jóhannesson.


„Ein Mann, der alles zu wissen scheint“

Den angesehenen Forscher kennen fast alle seiner Landsleute aus dem Fernsehen, wo er seit Jahren verlässlich die politische Lage Islands kommentiert. Seinen plötzlichen Aufstieg zum Top-Kandidaten verdankt der 47-Jährige aber vor allem den Panama Papers, die die Beteiligung auch von Politikern an Briefkastenfirmen aufgedeckt hatten. „In diesen Tagen war ich oft im Fernsehen und anderen Medien, habe meine Sicht der Dinge geschildert“, erzählt Historiker Jóhannesson. „Da haben viele Leute gefühlt, dass ich der ideale Kandidat für das Präsidentenamt wäre.“

Der Kampf um den Posten hatte schon längst begonnen, aber Jóhannesson schoss in Umfragen direkt an die Spitze. „Plötzlich wurde er unglaublich beliebt - ein Mann, der zu wissen schien, worüber er sprach“, erklärt die Politikwissenschaftlerin Stefania Oskarsdottír von der Universität von Island. „Er hat die Aura eines ganz normalen Kerls, der den durchschnittlichen Isländer gut repräsentieren kann.“

Dass ein „ganz normaler Kerl“ sie vertritt, ist den Isländern noch wichtiger geworden, seit ihr Vertrauen in die wirtschaftliche und politische Elite durch den Bankenkollaps 2008 völlig zerstört wurde. „Die Menschen müssen wieder Vertrauen in das Parlament und den politischen Prozess gewinnen“, sagt Jóhannesson. Im Herbst soll es vorgezogene Neuwahlen geben. Die Piratenpartei ist seit dem Aufruhr um die Panama Papers wieder stärkste Partei.

„Island braucht einen aktiven Präsidenten, der ein Gegengewicht zum Parlament bildet“, meint Oskarsdottír. Ólafur Ragnar Grímsson war für die Inselbewohner lange so ein Präsident. Seit 1996 hat das aktuelle Staatsoberhaupt sein ursprünglich vor allem repräsentatives Amt immer wieder dafür genutzt, Druck auszuüben. Er warb für mehr Volksabstimmungen und legte sein Veto gegen Gesetzentwürfe ein. Nach der Krise hatte Grímsson seine Unterschrift unter das Abkommen zur Schuldentilgung für die heimische Pleitebank Icesave verweigert. Für Jóhannesson wäre er wohl ein ernstzunehmender Gegner gewesen - wenn ihm nicht auch die Panama Papers dazwischen gekommen wären.

Historiker und Fußballfan Jóhannesson liegt derweil inzwischen soweit vorn, dass Experten wie Oskarsdottír kaum noch Chancen für andere Kandidaten sehen - auch, weil sie eine geringe Wahlbeteiligung erwarten: „Viele Menschen sind auf Reisen, und die Isländer sind wegen der Fußball-EM aufgeregt, deshalb ist die Präsidentenwahl in den Köpfen der meisten Isländer praktisch schon vorbei.“

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