Israel Leben mitten im Terror

24 Stunden nach den tödlichen Angriffen im Kaffeehaus Brenner sucht unser Korrespondent in Tel Aviv nach den Spuren aus der Terrornacht – und trifft Menschen, die alle auf ihre Art vom Anschlag gezeichnet sind.

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Der Vater des 42-Jährigen Ido Ben Ari, einem der Opfer des Terroranschlags, verlangte am offenen Grab von der Regierung, endlich eine Lösung für den Konflikt zu finden. Quelle: AP

Tel Aviv Erschüttert kniet Aliza auf dem Boden, vor den Blumen und Gedenkkerzen und dem Plakat, auf das jemand in roten und schwarzen Buchstaben von Hand hingeschrieben hat: „Unser Herz ist mit den Opfern.“ Die junge Frau, eine Sanitäterin, hatte am Mittwochabend Dienst im Ichilov Krankenhaus, als die Verletzten dort eingeliefert wurden.

Die Klinik ist nicht weit entfernt vom Tatort, dem Sarona-Markt, wo zwei Palästinenser im Brenner-Kaffee plötzlich wild um sich schossen und dabei vier Menschen getötet und über ein Dutzend Personen verletzt hatten, zum Teil schwer. David, ein erfahrener Berufskollege, steht jetzt, 20 Stunden später, neben Aliza an der spontan entstandenen Gedenkstätte und versucht, die schluchzende Frau von den quälenden Bildern zu befreien, die sie seit der Terror-Nacht nicht mehr loslassen.

Wenn sie sich an die Szenen des Horrors nicht bald gewöhnen werde, habe sie im Rettungsdienst nichts zu suchen, sagt David voller Teilnahme. Doch auch ihm macht – trotz seiner zahlreichen Einsätze – der Anblick blutiger Chaosszenen immer noch zu schaffen. „Aber sie machen mich nicht mehr trübsinnig. Damit müssen wir eben leben“, meint er.

Szenenwechsel: Im Kaffeehaus Brenner bestelle ich dasselbe Schokoladengericht, das die beiden Terroristen laut Medienberichten auf dem Tisch hatten, bevor sie zur Tat schritten. Plötzlich füllt sich das Lokal mit Uniformierten: Sie sollen für die Sicherheit des Regierungschefs sorgen, der sich bald an die Bar setzen und mit dem Filialleiter ein paar Worte wechseln wird. Vor laufenden Kameras natürlich.

Später verbreitet Benjamin Netanjahus Büro die Botschaft, die nach jedem Anschlag routinemäßig gepredigt wird. „Unser Volk ist stark“, sagt er fast beschwörend, „wir werden nicht nachgeben“. Er sehe, dass das Leben am Sarona-Markt wieder zum normalen Rhythmus zurückfinde – „und das ist gut so“. Von Routine ist freilich noch nichts zu spüren. Sobald Netanjahu, umringt von seinen Leibwächtern, das Lokal verlassen hat, leert es sich wieder.

Auch die Lokale der Vergnügungsmeile Sarona, die am Donnerstagabend in der Regel von Tausenden besucht wird, wo es einen Biergarten, Bars und Pubs, eine Pizzeria, einen Burger-Imbiss und alle möglichen Delikatessen gibt, zudem Modegeschäfte mit trendigen Labels und Computer-Stores – sie wirken 20 Stunden nach dem Attentat wie ausgestorben. „Die Stimmung ist im Eimer“, sagt mir ein junger Kellner in einer Sushi-Bar und zeigt auf die gähnende Leere im Lokal. Ich bin der einzige Gast.


Terror als eine Reality-Show

Vor dem Kaffeehaus, wo die beiden Palästinenser mit dem Morden anfingen, haben sich die wichtigsten israelischen TV-Stationen aufgestellt. Als ob Terror eine Reality-Show wäre, wird der Tatort vorübergehend zum Nachrichten-Studio. Zu Israel gehört, dass die Bürger in politische Endlosdiskussionen verwickelt sind.

Zu den Dauerbrennern gehört der Umgang mit Terror. Im Kampf gegen die Gewalt helfe bloß Härte, sagen viele, lieber etwas zu viel als zu wenig. Dem widerspricht allerdings der Bürgermeister von Tel Aviv, Ron Huldai. Im Gegensatz zu den meisten Politikern, die sich zum Thema „Kampf dem Terror“ interviewen lassen, fordert er weder ein hartes Durchgreifen gegenüber Palästinensern noch den Bau neuer Siedlungen oder die Annexion palästinensischer Gebiete. Der ehemalige Kampfpilot, der 1967 im Krieg gegen Jordanien Einsätze flog und half, den Angriff arabischer Armeen abzuwehren, macht vielmehr die Besatzung der Westbank für die Attacke verantwortlich.

„Wir müssen unseren Nachbarn zeigen, dass wir die ehrliche Absicht haben, zur Realität eines kleineren jüdischen Staates mit einer klaren jüdischen Mehrheit zurückzukehren“, sagt der Bürgermeister. Weltweit gebe es rund 200 territoriale Konflikte, so Huldai, „aber wir sind wahrscheinlich die einzigen, die ein anderes Volk besetzt halten“. Und dann fordert er: „Sobald der Terror nachlässt, muss Israel wieder das Gespräch mit den Palästinensern suchen.“

Ähnlich denkt auch der Vater des 42-jährigen Ido Ben Ari, einem der Opfer des Terroranschlags im Sarona-Markt. Am offenen Grab verlangt er von der Regierung, endlich eine strategische Lösung für den Konflikt zu finden, statt sich bloß auf taktische Manöver zu beschränken.

Erneut, sagt er bei der Beerdigung seines Sohnes Ido, habe das Sicherheitskabinett nach dem Anschlag beschlossen, den Palästinensern das Leben zu erschweren. Das schaffe jedoch bloß Leiden, erhöhe den Hass und treibe die Palästinenser in die Verzweiflung. Das feure den Teufelskreis des Terrors weiter an, sagt der Vater, die Leiche seines Sohnes vor ihm.

Jugendgruppen, die mit der Siedlerbewegung sympathisieren, haben sich inzwischen dutzendweise vor dem Platz eingefunden, wo am Abend zuvor vier Menschen ermordet wurden. Avi, einer ihrer Leiter, mit dem ich ins Gespräch kommen, ist genervt über Huldai und alle diejenigen, die die Schuld für den Terror bei einer falschen Politik suchen.


„Terrorist sein ist bei Palästinensern außerordentlich populär“

„Terrorist sein ist bei Palästinensern außerordentlich populär“, sagt Avi empört. In der Tat: Mit großer Freude reagierten große Teile der palästinensischen Bevölkerung auf den aus ihrer Sicht erfolgreichen Terror im Herz von Tel Aviv. Die radikal-islamische Hamas pries die beiden Terroristen als Helden und schwärmte von „der ersten Prophezeiung des Ramadan“, als wollte sie implizit zu verstehen geben, dass während des muslimischen Fastenmonats mit weiteren Attacken zu rechnen sei. In Städten der Westbank wurden auf den Straßen Süßigkeiten verteilt, als Zeichen der Freude über die Toten in Tel Aviv wurden Fahnen geschwungen.

Die Sicherheitskräfte von Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas seien ein verlässlicher Partner im Kampf gegen den Terror, widerspreche ich Avi. Sie arbeiten eng mit israelischen Offizieren und Geheimdienstlern zusammenarbeiten, und sie haben schon vielen Terroristen in der Westbank das Handwerk gelegt.

„Das ist unwesentlich“, wirft Avi ein. Schon zu Zeiten, als es Israel noch nicht gab, habe es Terrorattentate gegeben. Mit der Besatzung könne das nichts zu tun haben. Um zu beweisen, dass er recht hat, zückt er sein Handy, auf dem er die erste Seite einer Tageszeitung vom 25.April 1947 heruntergeladen hat. „Überzeug Dich selber, schon damals gab es Terroranschläge. Hier in Sarona starben vier Menschen, ein Jahr also vor der Staatsgründung Israels.“

Zu Hause google ich. Avi hat recht. Chronisten berichteten damals von einem Terroranschlag mit vier Toten. Doch zwei Unterschiede hat Avi unterschlagen. Die Täter waren nicht Araber, und die Opfer waren keine Juden. Die Bombe auf die Polizeistation Sarona wurde von jüdischen Terroristen geworfen, die die britischen Kolonialherren vertreiben wollten. Bei den vier Opfern handelte es sich um Briten. Ein Jahr später verabschiedete sich London von Palästina. Der britisch-jüdische Konflikt war damit beendet – nicht aber der Streit um Palästina.

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