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Japan Die Flucht der "Schönwetterbotschafter"

Die deutsche Botschaft in Japan gerät unter Beschuss, weil sie Tokio so schnell verlassen hat. Auch die Flucht westlicher Unternehmen stößt auf Kritik.

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Japanischer Regierungssprecher Quelle: REUTERS

Zwei Wochen nach dem schweren Erdbeben in Japan gibt es noch immer keine Klarheit darüber, was im havarierten Kernkraftwerk Fukushima im Nordosten des Landes abläuft. Nach Angaben der Regierung hat dort eine Kernschmelze eingesetzt. Man glaube aber, dass dieser Prozess inzwischen gestoppt sei, sagte Regierungssprecher Yukio Edano. Die hohe Radioaktivität, die im Wasser in dem Turbinengebäude dort entdeckt worden sei, sei teilweise auf die Kernschmelze zurückzuführen. Genaue Informationen teilte auch Kernkraftsbetreiber Tepco nicht mit. Fest steht nur, dass jüngste Erdbeben am Montag morgen hat keine weitere Schäden am Kernkraftwerk verursacht.

Die deutsche Botschaft in Japan verlautbart auf ihrer Website: "Eine unmittelbare Gesundheitsbedrohung durch radioaktive Strahlung für die Bevölkerung auch außerhalb der gegenwärtigen Sicherheitszone von 30 Kilometer Radius um das Kraftwerk und insbesondere im Großraum Tokio/Yokohama besteht gegenwärtig zwar nicht." Dennoch wird allen Deutschen empfohlen, die Regionen Tokio/Yokohama, den Tohoku-Raum, Hokkaido sowie die Präfekturen Yamanashi, Nagano, Shizuoka und Niigata vorübergehend in Richtung Westjapan zu verlassen – "präventiv", sozusagen. Die deutsche Botschaft selbst zog bereits eine Woche nach dem ersten schweren Beben von Tokio in die knapp 400 Kilometer entfernte Stadt Osaka.

Kritik an deutscher Botschaft

"Als ich vor 30 Jahren nach Japan ging", erinnert sich der Schweizer Peter Naef, "gab mir mein Personalchef mit auf den Weg, dass ich nicht nur das Unternehmen dort vertrete, sondern auch als ein ‚Botschafter der Schweiz‘ fungiere und dass der Geschäftserfolg in Japan entscheidend davon abhängt, wie man sich in die Gesellschaft eingliedert." Angesichts der Flucht und der Fluchtaufrufe zahlreicher europäischer Botschaften stellt sich die Frage, wie ernst dort diese Eingliederung genommen wurde: "Vielleicht sollten sie sich künftig ‚Schönwetterbotschafter‘ nennen", schlägt Naef sarkastisch vor.

Sarkasmus und Wut sind derzeit häufig anzutreffen, wenn deutsche Expatriates über das Verhalten der deutschen Botschaft sprechen. "Sie sagen, es werde alles Mögliche versucht, um mit den deutschen Bürgern in Japan Kontakt aufzunehmen. Tatsächlich haben wir nicht einmal eine E-Mail oder einen Telefonanruf von der deutschen Botschaft bekommen", kritisiert Christian Thoma, der seit über 30 Jahren in Japan lebt. "Da lobe ich mir die Österreicher. Einen Tag nach dem großen Beben hat deren Botschafter die Vorstände aller österreichischen Vereine in Japan aufgefordert, sie mögen bei ihren Mitgliedern nach dem Rechten sehen, und zwar unabhängig von der Staatsbürgerschaft. Die nehmen ihren Job ernst!"

Nicht wenige ausländische Führungskräfte haben ihre Posten in Tokio verlassen, "was einen völligen Respektverlust bei denen garantiert, die geblieben sind", schreibt Axel Lieber aus Tokio. Dabei hat es dort bislang keinerlei Radioaktivitätsmessungen gegeben, aus denen Gesundheitsrisiken abgeleitet werden können. Bereits am Tag des Bebens hatte der Softwarehersteller SAP seine Büros in Tokio geräumt und den dortigen knapp 1100 Mitarbeitern nahegelegt, sich mit ihren Familien im Süden des Landes in Sicherheit zu bringen.

Deutsches Ansehen leidet

Die präventive Flucht der Europäer, vorrangig der Deutschen, irritiert auch die japanischen Mitarbeiter und Geschäftspartner. "Das Verständnis meiner japanischen Kollegen an der Universität Tokio für die Flucht der Deutschen und anderer Europäer ist gleich Null. Unser Ansehen hat hierdurch sehr gelitten", beschreibt Mathematik-Professor Hermann Gottschewski die Stimmung vor Ort. Er sorgt sich um das Ansehen der deutschen Community in Japan – und das ausgerechnet in dem Jahr, in dem offiziell das 150jährige Bestehen der deutsch-japanischen Freundschaft gefeiert wird: "Von einer Angehörigen eines hohen japanischen Regierungsbeamten, mit der ich persönlich bekannt bin, habe ich die Forderung gehört, Japan solle die diplomatischen Beziehungen mit Deutschland abbrechen. Sicherlich war die Forderung nicht ernst gemeint, aber sie spiegelt die Stimmung vieler Japaner wider." Dass so viele sogenannte Japan-Freunde das Land Hals über Kopf verließen, ist auch für Peter Naef nicht nachvollziehbar: "Die Ereignisse der letzten Tage haben gezeigt, dass viele dieser ‚Freundschaften‘ nicht viel wert sind."

Gottschewski bereut es sehr, zunächst selbst "aus mangelnder Sachkenntnis, mangelndem Vertrauen in die japanischen Medien, aber auch aus mangelnder Einfühlung in die Situation der japanischen Bevölkerung" Tokio in Richtung Kobe verlassen zu haben. Das habe auch seinem Ansehen an der Universität geschadet. Ein ebenfalls in Tokio lehrender Deutscher hält es für unvereinbar, vor japanischen Studenten Vorlesungen über Wirtschaftsethik, Unternehmensführung, Verantwortung und Führungsstärke zu halten, dann die Menschen aber in einer Notlage im Stich zu lassen. "Es wäre an der Zeit, dass deutsche Behörden und Firmen nachvollziehbare Gründe dafür nennen, warum sich ihre Mitarbeiter derzeit in Tokio nicht aufhalten sollen", fordert Gottschewski.

Die europäische Behörden- und Unternehmensflucht aus Tokio reflektiert in vielerlei Hinsicht die überdrehte und panische Krisenberichterstattung hierzulande. Die Schauergeschichten über die angeblich in Angst und Chaos versinkende Stadt sind auch für Christian Thoma "schamlos und haarsträubend" und Teil einer "verdummenden Informationsstrategie", die dem gesamten japanischen Volk Unrecht tut.

Die von eigenen Ängsten geprägte Krisenwahrnehmung in Europa stößt bei vielen Menschen in Japan auf Ablehnung. "Wenn ich internationale TV-Sender einschalte, fühle ich mich plötzlich, als ob ich einen Drink oder eine tröstende Umarmung bräuchte", schreibt ein englischer Expatriate, der anonym bleiben möchte. Dabei ist Tokio, wie viele Dortgebliebene betonen, auch in Krisenzeiten eine der sichersten Großstädte der Welt. "Für verantwortungsbewusste Bürger", resümiert der Schweizer Naef. "sind Flucht aus der Realität und egoistisches Denken keine Lösung. Ich bin dankbar, gerade jetzt hier zu sein, da ich meinen Freunden in schweren Zeiten beistehen kann."

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