Jewgenij Gontmacher Russlands Wirtschaft im freien Fall?

Der russische Ökonom Jewgenij Gontmacher spricht im Interview über die Notwendigkeit liberaler Reformen in Russland, seine Erwartungen für das Wirtschaftswachstum und die Gefahr der Abhängigkeit von Öl und Gas.

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Blick auf das Historische Museum (l), die St. Basilius Kirche (M) und den Kreml am roten Platz in Moskau. Quelle: dpa

Die russische Wirtschaft steckt in einer schwierigen Situation. Im vergangenen Jahr ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um vier Prozent gesunken, die Inflation ist gestiegen. Was erwarten Sie für 2016?

Jewgenij Gontmacher: Ich denke, dass BIP wird in diesem Jahr weniger stark sinken als 2015, aber die negative Entwicklung setzt sich dennoch fort. Nach den Prognosen erwartet man minus ein Prozent. Ich glaube aber, die Inflation wird gleichzeitig wieder im zweistelligen Bereich - bei etwa zehn Prozent - landen. Mit anderen Worten: es erwartet uns nichts Gutes, die russische Wirtschaft befindet sich weiter im Fall und hat den Grund noch nicht erreicht.

Zur Person

Sie sind auch ein Experte für soziale Fragen. Welche Stimmung herrscht bei den Russen? Protestieren sie oder ist ihre Leidensgrenze noch nicht erreicht?

Die Bevölkerung ist beunruhigt. Die Umfragen zeigen, die Bevölkerung versteht, dass sich ihre sozialen Umstände weiter verschlechtern werden. Das bedeutet konkret: sinkende Einkommen, weniger Chancen eines freien Zugangs zur staatlichen Gesundheitsversorgung sowie steigende Preise. Aber führt das zu Protest? Ich denke nicht. Es gibt kleine lokale Demonstrationen wie den Streik der Fernfahrer, der durch die Medien ging. Es gibt aber keine überregionale Bewegung wie damals „Solidarnosz“ in Polen oder in anderen Staaten Osteuropas. Und ich glaube auch, dass es das in den kommenden Jahren in Russland nicht geben wird.

Wie reagiert die Regierung auf die Situation? Bei dem Gaidar-Forum im Januar schien die Mehrheit der Regierungsmitglieder von einem neuen Status quo auf schlechterem Niveau zu sprechen, an den man sich jetzt gewöhnen sollte.

Die Regierung ist besorgt, rechnet aber mit einer baldigen Eindämmung der Krise. Spätestens ab 2017 rechnet man wieder mit einem bescheidenen Wirtschaftswachstum. Die Regierung ist der Meinung, die Krankheit sei nicht so kompliziert. Die Gründe seien die niedrigen Ölpreise und Sanktionen. Deswegen brauche man auch keine Reformen. Die Ölpreise würden wieder steigen. In Regierungskreisen kursiert momentan die Prognose, dass das Barrel Öl bald wieder 60 Dollar kosten würde. Und die Sanktionen? Eigentlich auch kein Problem. Europa würde irgendwann der Sanktionen überdrüssig sein und sie selbst wieder aufheben. Danach wäre dann wieder alles gut und schön. Alles, um den Status quo zu stützen. Es gebe temporäre Schwierigkeiten, sagt man der Bevölkerung. Die müsse man ein paar Jahre erdulden, aber dann wird alles wieder gut.

Fünf Folgen der Wirtschaftskrise in Russland

Das wirkt wie nur ein Teil der Wahrheit. Verschiedene Strukturreformvorschläge lagen in den letzten Jahren auf dem Tisch. Welche Reformen wurden denn nicht umgesetzt, was wurde verschlafen?

Das ist natürlich nur ein Teil der Wahrheit. In Wirklichkeit liegt das Hauptproblem im ganzen russischen Wirtschaftsmodell: Stabilität auf der Grundlage von Öl und Gas, ohne die Entwicklung anderer Wirtschaftsbereiche. Welche Reformen hat man verschlafen? Man muss zum Beispiel die starke Rolle des Staates in der Wirtschaft einschränken. Die Befreiung von der Dominanz der großen Staatskonzerne ist sehr wichtig. Man hätte einen Privatisierungsprozess beginnen können, wie Tschubais es seinerzeit beim ehemaligen Energiemonopol „RAO EES“ (Aktiengesellschaft Unified Energy System) getan hat. Dazu ist eine flexible Steuerpolitik notwendig, gerade für die kleineren Unternehmen. Es ist notwendig zu deregulieren. Und man sollte sich selbstverständlich mit dem Justizsystem beschäftigen. Wir brauchen ein unabhängiges Justizsystem, das echten Eigentumsschutz garantiert und bei dem man seine Rechte vor Gericht verteidigen kann.

"In Wirklichkeit passiert nichts"

Putin argumentiert teilweise ähnlich. Er behauptet beispielsweise, dass die wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht nur am Ölpreis, sondern auch an Strukturproblemen liegen. Gibt es im Moment Hoffnung auf neue Reformbestrebungen?

Alle sprechen von einer Diversifizierung der Wirtschaft: Das sagt Putin, das sagt Medvedev. In Wirklichkeit passiert aber nichts. Um eine Trendwende einzuleiten, braucht man die tiefgreifenden Reformen, von denen ich gesprochen habe. Es sind keine reinen Wirtschaftsreformen, es sind eher Strukturreformen, Reformen der Staatsverwaltung und des Rechtssystems. Gref (ehemaliger Minister für wirtschaftliche Entwicklung und Handel, Anm. d. Red.) hat völlig Recht damit, dass das Hauptproblem bei uns in der mangelnden Effektivität der Staatsverwaltung liegt. Keine einzige Reform kann heute in Russland erfolgreich sein ohne die Änderung des Staatsverwaltungsstils.

Diese Firmen setzen noch auf Russland
In Russland wuchs der Arzneimittelhersteller Stada im vergangenen Jahr um vier Prozent, allerdings in Rubel gerechnet. Durch den Wertverfall der Währung nahm der Umsatz in Euro gerechnet stark um 14 Prozent auf 360,7 Millionen Euro ab. Das Land ist aber nach wie vor der größte Auslandsmarkt. Stada-Chef Hartmut Retzlaff reist derzeit etwa fünf Mal pro Jahr nach Russland, „aus motivatorischen Gründen, um den Mitarbeitern zu zeigen, dass man an den Standort glaubt“, sagt er. Quelle: dpa
Für den Naturarzneimittelhersteller Bionorica ist Russland der wichtigste Auslandsmarkt: Der steuert rund ein Drittel zu Geschäft bei und legte in den vergangenen Jahren stets zweistellig zu. Das ist auch 2014 nicht anders gewesen, allerdings nur in Absatz gerechnet. Der Umsatz sank wegen der Währungsumrechnungseffekte um etwa sieben Prozent auf 72 Millionen Euro. Bionorica-Chef Michael Popp hat den Verfall des Rubels nur zu einem Teil mit Preiserhöhungen aufgefangen: „Wir haben im Sinne des Patienten auf Umsatz verzichtet“, nennt Popp dieses Vorgehen. Quelle: obs
Der Gesundheitskonzern Fresenius hat im November angesichts der Osteuropa-Krise seine Pläne für ein Gemeinschaftsunternehmen in Russland aufgegeben. Geplant war ein Zusammenschluss des bestehenden Geschäfts der Ernährungs- und Infusionssparte Fresenius Kabi mit dem russischen Pharmaunternehmen Binnopharm. Den Unternehmen entstanden wegen des geplatzten Deals keine finanziellen Verpflichtungen. Zum Gesamtumsatz des Gesundheitskonzerns Fresenius trägt Russland weniger als ein Prozent bei. Quelle: REUTERS
Der Besuch bei Wladimir Putin vor gut einem Jahr hat Siemens-Chef Joe Kaeser viel Aufmerksamkeit, aber auch viel Kritik eingebracht – dem Geschäft geholfen hat er nicht. Die Umsätze seien etwa um die Hälfte eingebrochen, berichtete Kaeser kürzlich. Russland ist ein wichtiger Markt für den Infrastrukturanbieter, die Münchener bauen dort zum Beispiel Züge und Gasturbinen. „Russland bietet riesige Chancen, die man momentan nicht nutzen kann“, bedauerte Kaeser. Siemens wolle Know-how nach Russland geben und Produktion dort lokalisieren. „Aber diese Möglichkeit gibt es momentan nicht. Wir halten uns voll an alle Sanktionsvorgaben.“ Quelle: dpa
Im August 2013 kündigte die Otto-Gruppe noch neue Investitionen in Russland an. Eineinhalb Jahre später ist die Ernüchterung groß. Für das Unternehmen ist Russland zu einer Belastung geworden. Im abgelaufenen Geschäftsjahr ist der Umsatz um 25 Prozent gesunken. Bereinigt um Wechselkurseffekte bleibt ein Rückgang um nur vier Prozent. Und fest steht auch: Die Otto-Gruppe hat in Russland Geld verloren. Zwar hält Hans-Otto Schrader, Chef der Otto-Gruppe, eine Rezession in Russland für nicht vermeidbar. Aber: „Wir haben diesen Markt über sechs Jahre aufgebaut – und wir werden ganz vorne mit dabei sein, wenn sich die Lage bessert“, sagt er. Quelle: dpa
Fragt man den Vorstandsvorsitzenden von Hubert Burda Media, Paul-Bernhard Kallen (Bild), ob sich sein Unternehmen angesichts der Wirtschaftskrise in Russland aus dem Land zurückziehen will, antwortet er: „Nein, wir nicht. Die Frage ist aber, ob man uns noch haben will.“ Offenbar will der russische Staat das nicht. Vergangenen Herbst unterzeichnete Präsident Wladimir Putin ein Gesetz, das vorsieht, den Anteil von Ausländern an russischen Medienunternehmen auf 20 Prozent zu beschränken. Besonders hart trifft dies Burda. In Verlagskreisen werden die Erlöse, die Burda in Russland und in der ebenfalls krisengeschüttelten Ukraine erzielt, auf gut 200 Millionen Euro geschätzt. Quelle: Handelsblatt Online
Bauer will sich angesichts der Debatte um das neue Mediengesetz zwar überhaupt nicht zum Russland-Engagement äußern. Für den Hamburger Verlag dürften die Märkte in den USA, Australien, England und Polen aber weitaus wichtiger sein als der Markt in Russland, wo das Zeitschriftenhaus ausweislich seiner russischen Website 25 Titel herausgibt. Quelle: dpa

Sind Reformen mit dem jetzigen Personal möglich?

Ich würde es so sagen: Es gibt in der Regierung viele hochqualifizierte Leute, insbesondere im wirtschaftlichen und finanziellen Sektor. Es sind Leute, die ihr Fach verstehen. Gleichzeitig sind sie aber gezwungen, gegen besseres Wissen Politik durchzusetzen. Das Problem sind aber nicht die Leute, sondern die Verwaltungsstruktur. Die Staatsduma braucht eine Opposition, die diese Kontrollfunktion auch wahrnimmt. Wir erinnern uns noch gut an den Staatshaushalt 2015, den die Duma mit der Mehrheit der Stimmen (in erster Linie die Stimmen der Partei „Einiges Russland“) im Dezember 2014 angenommen hat – mit einem erwarteten Ölpreis in Höhe von 90 Dollar! Die Duma stimmte zu, obwohl alle wussten, dass dieses Ölpreis-Szenario mehr als unrealistisch war. Darüber hinaus ist es ein riesiges Problem, dass jede Entscheidung von Putin abhängt. Es gibt also nur eine Chance bei echten Strukturreformen, wenn es weiter bei kosmetischen Eingriffen bleibt, passiert nicht viel.

Für Liberale ist das Rechtssystem in Bezug auf Bürger-, Menschen- und Eigentumsrechte entscheidend. Wie realistisch ist die Reform des Justizsystems?

Die Justizreform ist keine einfache Sache, sondern ein langfristiges Projekt. Ein sehr langfristiges Projekt, das man dringend angehen muss. Schnellere Erfolge könnte man bei der Reform der kommunalen Selbstverwaltung sehen, allerdings nicht sofort in allen Regionen. Es ist wichtig zu verstehen, dass Russland sehr unterschiedlich ist. Man sollte schon in zwei bis drei Regionen anfangen, die bereits strukturell dazu in der Lage sind.

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