Junge Menschen in der Türkei „Erdogan ist ein verdammter Diktator“

Seit dem gescheiterten Putschversuch leben viele Türken in großer Unsicherheit. Drei junge Menschen aus Istanbul erzählen, wie sie die Putschnacht erlebt haben – und wie sich ihr Leben seitdem verändert hat.

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Vor allem die junge Generation sieht die aktuellen Entwicklungen in der Türkei mit Sorge. Quelle: AP

Vier Wochen ist es nun her, dass der Militärputsch in der Türkei niedergeschlagen wurde. Seitdem herrscht Unruhe im Land. Präsident Recep Erdogan hat mit groß angelegten „Säuberungen“ begonnen. Vor allem die junge Generation beobachtet die Entwicklungen in ihrem Land mit Sorge. Handelsblatt-Volontär Thomas Schmelzer hat drei junge Türken gefragt, ob sie ihm von ihren Erlebnissen berichten. Alle sagten sofort zu. Ihre Namen wollen Sie lieber nicht veröffentlichen. 

Eine Absolventin der Internationalen Beziehungen, 24 Jahre

„Mein Leben ist nach dem 15. Juli nicht mehr das gleiche wie zuvor. Der 15. Juli, das war der Tag des Putschversuches hier in der Türkei. Der Tag, an dem ich zum ersten Mal in meinem Leben das Geräusch von F16-Fliegern gehört habe. Und das Geräusch einer Bombe, die explodiert. Nach dem Knall dachte ich, dass es kein Leben mehr gibt, dass ich meine Familie niemals wiedersehen werde.

Ich fühle mich unsicher seitdem. Meine Familie ist jetzt wichtiger für mich. Ich habe erkannt, dass das Leben nur ein kurzer Moment ist, den man umarmen sollte. Aber ich fühle mich nicht danach. Ich denke leider öfter an den Tod. Mir fehlt die Energie zum Arbeiten, zum Studieren, sogar zum Reisen bin ich zu schwach. Es geht um Sicherheit, das habe ich jetzt begriffen. Das ist das Wichtigste, was dir dein Land zusichern kann.

Der 15. Juli war ein ganz normaler Freitag. Ich hatte mich mit Freunden am Taksim-Platz verabredet, wie so oft. Nach der Arbeit wollten wir reden, rumhängen, entspannen. Wegen der Selbstmordanschläge haben wir uns in Istanbul daran gewöhnt, dass weniger Leute in den Cafés und auf der Straße sind, aber an diesem Freitag war alles normal. Gegen 22 Uhr merkte ich, dass die Leute ständig auf ihre Handys schauten. Sie redeten nervös. "Putsch, Soldaten, geschlossene Brücke, Erdogan", solche Wörter hörte ich. Auf Twitter sah ich ein Foto von Soldaten die eine Brücke dicht machten. Ich nahm das nicht so ernst - bis eine Freundin anrief und sagte: "Sena, das ist was Ernstes, irgendwas passiert hier gerade, geh nach Hause, sofort." Da merkte ich: Das hier ist nicht wie sonst.

Ich verließ den Taksim-Platz so schnell wie möglich und ging zu den Taxi-Ständen. Am günstigsten ist ein Dolmuş, ein Großraumtaxi, das man sich mit anderen teilt. So eins nahm ich. Aber das Taxi kam nicht weit, alles war mit Autos verstopft. Irgendwann brach bei uns im Taxi Panik aus. Jeder wollte raus. Ich zahlte und stieg aus. Auf der Straße: Chaos. Irgendwann fand ich ein normales Taxi, aber auch das blieb im Verkehrsstrom stecken. Da saß ich also: Mit einem Fremden im Taxi, keine Ahnung was gerade passiert, kaum noch Akkuladung, irgendwo in dieser riesigen Stadt. Angst! Horror! Zum Glück kreuzten wir das Haus einer Freundin, da stieg ich aus. Es waren nur wir beide: zwei Mädchen, deren Körper nicht aufhörten vor Angst zu zittern.

Was Erdogan angeht, könnte ich Dutzende Sachen aufzählen, die mir an ihm und seinem Regierungsstil nicht passen. Aber ganz ehrlich: Seit dem 15. Juli sind mir andere Dinge wichtiger. Was zählt ist meine Sicherheit. Als Türkin habe ich wie jeder andere das Recht zu wählen. Und Erdogan ist nun mal mit den Stimmen von uns Türken an der Macht. So gesehen ist es gerade nicht wirklich wichtig, ob man für oder gegen Erdogan ist.

Der Putschversuch war ein Anschlag auf die Demokratie und unser Recht. Seitdem Erdogan 2001 an die Macht kam hat sich die Türkei verändert. Vieles hat sich verbessert, vieles hat sich verschlechtert. Aber eine Sache kann ich nicht leugnen: dass Erdogan und die Türkischen Bürger stark und mächtig geblieben sind während des Putschversuches.

Ich persönlich bin müde und erschöpft von all dem Kram. Alles was ich will ist ein ruhiges und gelassenes Leben in diesem wunderbaren Land. Ich bin jetzt 24 Jahre alt und brauche Energie und Freude für mein Leben. Es gibt in der Türkei so viele einzigartige Orte.  Ich will mich nur noch darum scheren, diese Schönheit zu entdecken.“


Ein Schiffsmechaniker, 34 Jahre

„Die Türkei ist nicht mehr das Land, in dem ich aufgewachsen bin. Deswegen habe ich mit meiner Freundin einen Entschluss gefasst: Wir wollen raus hier! Auswandern. Es hat sich einfach zu viel verändert.

In den ersten Tagen nach dem Putschversuch gab es ein großes Durcheinander. Keiner ging mehr auf die Straße. Alle mussten erst einmal begreifen, was da gerade passiert war. Nur eine Gruppe war ziemlich gut organisiert: Die Anhänger der sogenannten "Demokratie-Treffen". Die organisierten ihre Treffen vom ersten Tag an. Hier in Istanbul und überall in der Türkei.

Das Demokratieverständnis dieser Leute ist ziemlich speziell. Eines Nachts kam ich von der asiatischen Seite der Stadt und musste über den Taksim-Platz, weil ich dort in der Gegend wohne. Als ich den Platz überquerte, stieß ich auf die "Demokratie-Anhänger". Jede Menge Leute, überall Türkei-Flaggen. Ich ging weiter, aber ein Auto kreuzte meinen Weg. Da saßen Männer und Frauen drin. Dann kurbelten sie das Fenster runter und riefen: "Zu euch kommen wir bald auch noch, ihr Gezi-Kerle."

Während des Putschversuches dachte ich erst, die ganzen Hubschrauber und Panzer seien wegen eines Selbstmordattentäters in der Stadt. In Istanbul sind Anschläge des IS ein riesiges Problem. Aber dann wurde klar: Das ist ein Putschversuch. Das Internet, die Fernsehkanäle, das Radio - das alles funktioniert aber trotzdem. Als die Soldaten ins Studio des Staatsfernsehens stürmten und die Moderatorin zwangen ihr Manifest vorzulesen, wusste ich: Das ist ein Putschversuch von ziemlich dummen Leuten - und er wird nur Erdogan helfen, seine Macht zu verankern.

Mittlerweile ist klar: Ich hatte leider Recht. Seit dem Putschversuch macht nur einer seine Show: Erdogan. Schon am zweiten Tag nach dem Putsch kündigte er an, die riesige Shopping-Mall am Gezi-Park hochzuziehen, gegen die so viele Menschen protestiert hatten. Am zweiten Tag!

Erdogan und seine Leute reden gerne von Demokratie. Sie reden gern über eine neue Verfassung. Aber keiner von denen hört die Demokratische Partei der Völker (HDP) auch nur an. Keiner von denen schert sich darum, was die Vertreter anderer Parteien denken. Erdogan ist ein verdammter Diktator. Wenn du ihn nicht unterstützt, zählst du nichts für ihn - und es ist ihm vollkommen egal, was du denkst.

Ich bin nicht der Einzige, der das so sieht. Erdogan politisiert hier in der Türkei jeden - selbst Leute, denen die Politik früher ziemlich egal war. Seine Anhänger machen alles mit, was er vorgibt, ohne auch nur ein bisschen nachzudenken. Früher hat Erdogan oft positiv über Gülen gesprochen - oft vor riesigen Menschenmassen. Die Leute haben dann Gülens Namen gebrüllt. Minutenlang. Und jetzt sagt Erdogan auf einmal: "Gülen hat uns verarscht - er ist ein Terrorist." Und die Menge schreit: "Hängt Gülen, hängt ihn!" Diese Leute denken kein bisschen nach. Sie sind Schafe."


Eine Computergrafik-Designerin, 27 Jahre

„Ich bin erst vor ein paar Wochen in die Türkei zurückgekommen. Davor habe ich einige Zeit in Deutschland gelebt. Bis jetzt ist mir hier noch nichts Komisches passiert, aber man kann die Unsicherheit spüren, die hier herrscht. Keiner weiß, was gerade passiert. Es ist das Schlimmste, was diesem Land passieren konnte. Es gibt keine Meinungsfreiheit mehr. Freunde erzählen, dass an Straßen ihre Handys durchsucht wurden, nach Fotos, Whatsapp-Nachrichten, Mails, nach allem. Die Regierung verdächtigt jeden mit höherer Bildung als Staatsfeind. Das fühlt sich sehr unangenehm an, ich glaube, das kann sich jeder vorstellen.

Die Türkei hat in der Vergangenheit schon so viel mitmachen müssen. Wir verharren ohnehin in einer Art Depression. Es gibt immer mehr Menschen im Land, weil die Regierung Anreize für möglichst viel Nachwuchs setzt und weil viele Flüchtlinge kommen. Das Land wird überfüllt und wir haben uns unglücklicherweise daran gewöhnt. Das ist nicht abwertend gemeint, aber die Türkei ist ein Land, in dem es ohnehin nur für ziemlich wenige Menschen eine echte Chance auf ein gutes Leben gibt. Und wenn es immer mehr Menschen gibt – dann werden die Möglichkeiten für jeden einzelnen noch seltener. Aber die Leute akzeptieren das alles. Wir leben unseren Alltag, ruhig, gelassen, friedlich. Das ist das, was ich sehe.

Meine Erfahrung aus meiner Zeit in Deutschland ist, dass es ziemlich kräftezehrend sein kann, einfach auszuwandern und sich woanders nahtlos einzugliedern. Das ist ein ziemlich harter und ein sehr langer Prozess. Und keiner will zu so etwas gezwungen sein. Deswegen plane ich nicht mehr, länger als ein paar Jahre ins Ausland zu gehen.

Natürlich habe ich hier Angst. Aber es gibt keine andere Option als sich daran zu gewöhnen. Man muss eben jedes Mal ein Risiko eingehen, wenn man sich mit jemandem irgendwo trifft. Man kann immer und überall Ziel eines Anschlags von Terroristen werden – ob das auf einem Musikfestival oder auf einem touristischen Platz ist.

Aber es geht nicht nur um uns. Überall auf der Welt durchleben die Leute gerade harte Zeiten. Für die Zukunft bleibt uns gar nichts anderes übrig als einander in jeder Situation zu akzeptieren und zu wertschätzen. Wir sollten nett und weltoffen sein - und einen klaren Kopf behalten.“

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