Kabuls Witwenhügel Die Frauen der Toten und ihre letzte Zuflucht

Zehntausende afghanische Männer sind in den vergangenen Jahren gestorben. Aber was wird aus den Frauen? Der Staat hilft selten, auch die Verwandten sind nicht immer da. Die einzige Zuflucht: Sanabad, der Witwenhügel.

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Die Witwe Nadija steht am Eingang zu ihrem Lehmhäuschen in der Frauenstadt Sanabad mit ihren sieben Töchtern. Ihr Mann wurde vor einigen Monaten bei einem Bombenanschlag in Kabul getötet. Quelle: dpa

Kabul Vor ein paar Wochen hat Nadija Mehl gebraucht. Es war kein Geld im Haus, kein einziger Afghani, und ihre sieben Töchter waren hungrig. Nadijas Mann ist vor vier Monaten von einer Bombe zerrissen worden, bei einem Anschlag der Taliban auf einen belebten Platz in Kabul. Er hatte sich am Straßenrand als Tagelöhner angeboten. Am Ende des Tages waren seine Frau und seine Töchter allein, ganz auf sich gestellt.

Wäre Nadija irgendwo anders gewesen, hätte sie leicht verhungern können. Eine afghanische Frau ohne Mann ist eine Frau ohne Stimme, Rechte oder Ressourcen. Aber Nadija lebt in Sanabad, Kabuls Frauenstadt. Witwenhügel könnte man auch sagen zu der dichten Ansammlung krummer Lehmziegelhäuschen an engen Schlammwegen auf einer Bergkuppe im Südwesten der Millionenstadt.

Nadija ist also zur Nachbarin gegangen, die andere Frauen zu Hilfe gerufen hat. Und jede hat Nadija eine faustvoll Mehl gegeben. Am Abend gab es Brot für Nadijas Töchter. Der Witwenhügel von Kabul ist eine einzigartige Gemeinde. Sie ist Zuflucht für 500 oder mehr afghanische Frauen ohne Männer. Sie leben alleine, verdienen ihr eigenes Geld und beschützen sich gegenseitig.

Wann genau die Siedlung entstanden ist, weiß keiner mehr so genau, sagt die afghanische Frauenrechts-Analystin Nahid Ehsar, die die Gemeinde lange für ein Rechercheprojekt begleitet hat. Vermutlich irgendwann in den 90er Jahren, nachdem der Aufstand gegen die russische Besatzung und der Bürgerkrieg zwischen den Mudschahedin-Fraktionen Zehntausende Witwen geschaffen hatten.

Und die Gemeinde wächst noch immer. Mittlerweile kommen Frauen sogar aus anderen Provinzen. Aus Logar, Kunar, Kandahar – stark umkämpfte Ecken des Landes. Die Witwen helfen den Neuen dabei, eine Lehmhütte hochzuziehen, bringen Essensspenden, erklären, wie man in Kabul – wenigstens ab und zu – an Geld kommt.

Wie viele Witwen es in Afghanistan gibt, bleibt verschwommen. Aus dem zuständigen Ministerium für Arbeit, Soziales und Märtyrer heißt es, man habe diese Zahl nicht. Die Frauenorganisation der Vereinen Nationen, UN Women, sprach vor ein paar Jahren von allein von rund zwei Millionen Kriegswitwen. Die US-NGO „Beyond the 11th“, die afghanische Witwen unterstützt, hat ihre Gesamtzahl auf 2,5 Millionen geschätzt. Bei einer wiederum geschätzten Bevölkerungszahl von um die 25 bis 30 Millionen wären das sieben bis zehn Prozent aller Afghanen.

Sicher ist: Jeden Tag verwitwen mehr Frauen, denn der Krieg in Afghanistan ist wieder voll entflammt. Allein im vergangenen Jahr sollen nach unterschiedlichen Angaben 5500 bis mehr als 7000 Soldaten und Polizisten bei Gefechten gestorben sein. Dazu kamen mehr als 3200 zivile Männer. Sie alle haben gemeinsam: die Frauen, die sie hinterlassen – oft allein in einer Gesellschaft, in der die Frau an sich nicht zählt, in der sie wenig Bildung bekommt und es als verwerflich gilt, wenn sie außerhalb des Hauses arbeitet.


Familie ersetzt die staatliche Fürsorge

Die treibende Kraft in der Frauenstadt war jahrzehntelang Bibi Koh, die Großmutter vom Berg, die sich um solche Konventionen nicht geschert hat. Bibi Koh hat jede Witwe, die sie sah, eingeladen, auf den Berg zu kommen und die Gemeinde so auf eine Größe gebracht, die Macht bedeutet und Widerstand ermöglicht.

Sie war eine große, schwere Frau mit wirrem rot gefärbtem Haar, einem herabgesunkenen rechten Augenlid, das ihr etwas piratenhaftes gab – und schnellen Fäusten. Wenn ihr etwas nicht passte, schlug sie zu. Auch auf das Kinn der Enkelin, den Arm einer Nachbarin. Der Witwenhügel ist keine Kuschelgemeinde. Die Gewalt, die die Frauen erlebt haben, hat Spuren hinterlassen.

Bibi Koh ist im März gestorben, aber bei einem Besuch im Herbst hatte sie von ihrem Leben erzählt. Zwei Mal hatte sie ihren Mann verloren. „Kopfesser“ – „kala-khor“ – nannten die Verwandten sie irgendwann. Bibi Koh bringt den Tod, hieß es, und so wurde sie eines Tages samt ihren fünf Kindern aus dem Dorf geworfen. „Das zu erleben, hat mich sehr wütend und stark gemacht“, hat sie damals gesagt.

Nach ihrem Tod hat nun ihre Tochter Anisa die inoffizielle Leitung übernommen. Anisa ist Polizistin. Dass sie eine Waffe trägt – und das auch jedem sagt –, hat ihre Schützlinge enorm beruhigt. Denn der Staat hilft den Witwen nicht. Der Aufbau eines funktionierenden Sozialsystems stand nie im Mittelpunkt der internationalen Aufbaubemühungen. Das zuständige Ministerium für Arbeit, Soziales und Märtyrer gehört, mit anderen „sozialen“ Ministerien wie dem Flüchtlingsministerium, zu den am schlechtesten organisierten des Landes. Kein Geld, wenig Motivation, noch weniger Fachwissen.

Ruft man dort an und fragt nach dieser großen Gruppe der Opfer – eine der verwundbarsten sozialen Gruppen des Landes, wie humanitäre Helfer sagen –, dann heißt es, man habe „gute Programme“ für Witwen. Aber wie viele daran teilhaben, das wisse man gerade nicht.

Aus einer UN-Umfrage unter Kriegswitwen aus 2014 ging allerdings hervor, dass nur ein Drittel der befragten Frauen staatliche Unterstützung bekam – und dass die meisten von ihnen mit einer kleinen Einmalzahlung abgespeist worden waren statt eine regelmäßige Zuwendung zu erhalten. Die meisten anderen sagten, sie wüssten nicht, wie und wo sie sich um solche Unterstützung bewerben sollten.

Was bleibt, ist die Familie. Das Klischee besagt, dass in Afghanistan der Klan die staatliche Fürsorge ersetzt. Aber wer den Geschichten der Frauen vom Witwenhügel zuhört, lernt, dass dies kein verlässliches Netz ist. Auch Verwandte können grausam sein. Verwandte haben manchmal selber zu wenig zum Leben. Mitunter haben Verwandte Angst, die neue Frau im Haus könnte der Hausherrin ihren Einfluss oder sogar den Mann wegnehmen.

Jede vierte der von der UN befragten Witwen erzählte von Gewalt innerhalb der eigenen Familie. Sie seien beschimpft, geschlagen, zur Wiederheirat gezwungen oder ausgestoßen worden. Witwen, sagt Analystin Ehsar, werden zu „Frauen ohne Identität und Schutz“. Deg-e be-sarposch – Topf ohne Deckel – würden sie verächtlich auch genannt.


Ein lebendiges Lexikon der Krisen, Konflikte und Kriege

Nausi zum Beispiel. Bei einem Besuch der Witwengemeinde im April sitzt sie im Hof einer Nachbarin. Auf dem gestampften Erdboden liegt eine Plastikplane als Teppichersatz, Schuhe stehen aufgereiht davor, in der Ecke ein Haufen Schutt und verrostete Dinge, die für irgendwas sicher nochmal zu gebrauchen sind. Hühner und Kinder überall.

Nausi ist eine zierliche Dame Mitte 50 im zerrissenen Kopftuch und mit tiefen Falten im schüchternen Gesicht. Ihr Mann war ums Leben gekommen, als Mitte der 90er Jahre Raketen auf ihr Haus fielen. Die erste Rakete traf nur sein Bein, und er beschwor seine Familie ohne ihn zu fliehen. Als Nausi am nächsten Morgen zurückkehrte, konnte sie nur noch seinen zerschmetterten Körper bergen.

In der Stadt bekriegten sich damals die Mudschahedin-Gruppen, die zuvor vereint die Sowjets aus dem Land getrieben hatten und stritten, wer nun über die Hauptstadt herrschen durfte. Die Frauen vom Witwenhügel sind ein lebendiges Lexikon der Krisen, Konflikte und Kriege in Afghanistan.

Nach dem Tod ihres Mannes hat Nausi monatelang mit einem Schubkarren ihre Besitztümer, drei kleine Söhne und vier noch kleinere Töchter von Haus zu Haus geschoben – niemand wollte sie. „Du kommst mit acht Mäulern, was erwartest Du?“, sagten sie zu ihr. Den Witwenhügel nennt sie ein Gottesgeschenk. Sie denkt nicht gerne an die Zeit davor zurück. Sie bekommt Kopfschmerzen davon. Sie habe sich „wie eine Verrückte“ gefühlt. Immer nur weinen, weinen. Bleierne Beine.

Aber die Hügel-Frauen waren so stark. Bauten Häuser, besiegten die Polizisten, die kamen, um die illegal gebauten Häuschen wieder einzureißen, gingen raus und fanden Arbeit als Autowäscherinnen oder Besenbinderinnen. „Hier habe ich meine Füße wiedergefunden“, sagt Nausi.

Bibi Mehru, ihre Freundin, die um die 60 ist, beschreibt es ähnlich. Ihr Mann ist bei einer Explosion gestorben. Sie blieb zurück mit vier Töchtern und Verwandten, die kamen, wenn es Essen gab und wegblieben, wenn sie Hilfe brauchte. „Manchmal haben wir in einem Zelt gelebt, und ich konnte nächtelang nicht schlafen, weil ich Angst hatte, Männer wollen hinein zu meinen Mädchen“, sagt Mehru. Sie habe immer Angst vor Menschen gehabt, sagt sie, aber auf dem Hügel sei sie klug und stark geworden. Von den anderen „frechen Frauen“ habe sie gelernt, mit Menschen zu sprechen.

Trotz des Schutzes, den die weibliche Gemeinde bietet – das Leben der Witwen vom Hügel ist nicht leicht. Nausis Kinder und Enkel verkaufen hartgekochte Eier und bringen etwa 300 Afghani, vier Euro, am Tag nach Hause. Aber ein Sohn hat Tuberkulose. Die Flasche Medizin, die für zwei Wochen reicht, kostet 650 Afghani, umgerechnet etwa zehn Euro. Als es schlimmer wurde, wurden die Kinder aus der Schule genommen, damit sie mehr arbeiten konnten.

Nadija verdient gar kein Geld. Sie ist abhängig von Verwandten, die sie daheim nicht haben wollen, aber ab und zu Essen oder Geld bringen. Und von den Nachbarinnen. Vor kurzem hat jemand ihr angeboten, die jüngste der sieben Töchter zu kaufen. Mariam, acht Monate, war kurz vor dem Tod von Nadijas Ehemann zur Welt gekommen. Du kannst ihr doch sowieso kein gutes Leben bieten, hat die Frau gesagt. Aber Nadija bringt es nicht über sich. Noch nicht.

Einige der Töchter von Witwen haben geheiratet. Es sind jetzt wieder mehr Männer auf dem Hügel. Mehr Beschützer. Aber es kommen immer neue Witwen hinzu. Denn nun sterben wieder Tausende Männer in Afghanistan.

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