Als einziges Land der Region hat Tunesien nach dem „Arabischen Frühling“ 2011 weitreichende demokratische Reformen eingeleitet. Die Menschenrechtslage hat sich verbessert, gleichzeitig kämpft das kleine nordafrikanische Land mit wirtschaftlichen Problemen und Terrorismus. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) spricht von einem „Hoffnungsprojekt“. Deutschland setzt große Hoffnungen in Tunesien - und Tunesien braucht Partner. Nachfolgend ein Überblick über die Ausgangslage beim Besuch von Merkel am Freitag in Tunis.
Ist das deutsch-tunesische Verhältnis durch den Anschlag von Anis Amri mit zwölf Toten in Berlin belastet?
Beim Besuch des tunesischen Ministerpräsidenten Youssef Chahed Mitte Februar in Berlin hatte Merkel gesagt, durch das Attentat von Amri seien Deutschland und Tunesien „auf tragische Weise“ verbunden. Chahed betonte: „Anis Amri repräsentiert ganz sicher nicht Tunesien.“ Er wies aber die Verantwortung seines Landes für die islamistische Radikalisierung des Täters zurück, der Tunesien bereits 2011 verlassen hatte. Und auf Behördenversagen Tunesiens, das die Papiere für die Abschiebung des ausreisepflichtigen Amri nicht geschickt hatte, ging er nicht ein. Merkel kündigte an, dass Abschiebungen nun beschleunigt würden. Das dürfte nun in Tunis ein Thema sein. Merkel wird sowohl mit Chahed als auch mit Präsident Béji Caïd Essebsi sprechen und im Parlament eine Rede halten.
Wollen denn viele Tunesier ihre Heimat verlassen?
Tunesien spielt bei der Migration nach Europa nur eine geringe Rolle. 2016 kamen zwar mehr als 180 000 über die zentrale Mittelmeerroute von Nordafrika nach Italien, aber nur 0,5 Prozent davon waren Tunesier. Der Anteil der Tunesier unter den Flüchtlingen ist gering.
Welche Rolle spielt Tunesien bei der Migration?
Die EU fürchtet, dass Tunesien eine Ausweichroute für Flüchtlinge werden könnte, wenn durch die gerade eingegangene Kooperation mit der libyschen Küstenwache der Weg über Libyen dicht gemacht wird. Daher setzt Tunesien auch auf deutsche Hilfe bei der Grenzsicherung zum Bürgerkriegsland Libyen. Aufgrund der relativ stabilen Lage in Tunesien haben die meisten Flüchtlinge zudem kaum eine Chance auf Asyl in Deutschland. Merkel will Tunesien als sicheres Herkunftsland einstufen, was Abschiebungen beschleunigt, stößt damit aber bisher auf Widerstand der Grünen im Bundesrat. Ende 2016 hielten sich 1515 ausreisepflichtige Tunesier in Deutschland auf. Nur 116 wurden im vergangenen Jahr abgeschoben. Auch hier scheitert es oft an der Ausstellung entsprechender Dokumente von tunesischen Behörden.
Die Chronologie der Flüchtlingskrise
Deutschland setzt das Dublin-Verfahren für Syrer aus. Es sieht die Rückführung von Flüchtlingen dorthin vor, wo sie zuerst EU-Boden betraten.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nennt die Bewältigung des Flüchtlingszustroms eine „große nationale Aufgabe“ und beteuert: „Wir schaffen das.“
Deutschland und Österreich entscheiden, Tausende Flüchtlinge und Migranten aufzunehmen, die in Ungarn gestrandet sind. Bei der Ankunft in Deutschland werden sie bejubelt. CSU-Chef Horst Seehofer fühlt sich übergangen und warnt vor Überforderung.
Die EU-Staats- und Regierungschefs beschließen, die Hilfen zu erhöhen und 160.000 Flüchtlinge auf die Mitgliedsländer zu verteilen. Eine große Entlastung für Deutschland bleibt aus.
Der Bund stockt die Hilfe für Flüchtlinge an Länder und Gemeinden massiv auf.
Der Bundestag beschließt ein neues Asylrecht. Albanien, Kosovo und Montenegro werden zu sicheren Herkunftsländern. Asylbewerber sollen möglichst nur Sachleistungen erhalten.
Die Koalition verständigt sich auf besondere Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge mit geringen Bleibechancen. Zudem wird eine zweijährige Aussetzung des Familiennachzugs bei Flüchtlingen mit niedrigerem Schutzstatus beschlossen.
Auf dem CSU-Parteitag in München lehnt Merkel die CSU-Forderung nach einer Obergrenze für die Zuwanderung strikt ab.
Nach Slowenien, Kroatien und Serbien schließt auch Mazedonien seine Grenze für Flüchtlinge und andere Migranten. Damit ist die Balkanroute faktisch dicht, über die 2015 mehr als eine Million Menschen nach Deutschland und Österreich gekommen waren.
Die EU und die Türkei einigen sich darauf, Migranten, die illegal in Griechenland ankommen, in die Türkei zurückzuschicken. Im Gegenzug soll für jeden zurückgenommenen Syrer ein anderer Syrer legal und direkt von der Türkei aus in die EU kommen.
Die Rückführung von Flüchtlingen und anderen Migranten von Griechenland in die Türkei sowie die Umsiedlung von Syrern aus der Türkei in die EU beginnt.
Die EU-Kommission will Flüchtlinge gerechter verteilen. Wie viele ein Land aufnehmen muss, soll von Größe und Wirtschaftskraft abhängen. EU-Staaten, die bei dem System nicht mitmachen, sollen 250.000 Euro pro Flüchtling zahlen.
Die EU verlängert die Erlaubnis für vorübergehende Grenzkontrollen im eigentlich passkontrollfreien Schengen-Raum.
Der Bundestag erklärt Tunesien, Algerien und Marokko zu sicheren Herkunftsländern. Die notwendige Zustimmung des Bundesrates bleibt zunächst aus.
Die EU einigt sich im Grundsatz auf eine gestärkte gemeinsame Grenzschutzagentur und Küstenwache. Die bestehende EU-Grenzschutzagentur Frontex soll in der neuen Behörde aufgehen.
Die EU-Kommission will schärfer gegen Asylmissbrauch vorgehen. Wer nicht mit den Behörden des Aufnahmestaates zusammenarbeitet, müsse mit einer Ablehnung rechnen.
Wie sicher ist Tunesien?
Mehrere schwere Anschläge trafen 2015 Tunesien ins Herz: An einem Badestrand bei Sousse und im berühmten Bardo-Museum in Tunis starben mehr als 70 Menschen, zum Großteil Touristen. Seitdem gilt der Ausnahmezustand. Die Sicherheitskräfte gehen massiv gegen Terrorzellen vor. Die Lage ist inzwischen wieder relativ stabil. Zuletzt versuchte im Frühjahr 2016 die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), von Libyen aus einen Grenzort in Tunesien einzunehmen.