
Einst war Marktwirtschaft ein Sehnsuchtswort, durch das hindurch wir die bessere Zukunft sahen. Nun wird die Marktwirtschaft als Bedrohung empfunden.
Die einst lodernde Beziehung der Deutschen zu ihr ist erkaltet. Irgendwo zwischen der Pleite des Bankhauses Lehman Brothers und einem der unzähligen Euro-Rettungsgipfel kam es zur Gefühlsumkehr. Man traut der Marktwirtschaft, je nach Temperament, heute nichts oder alles zu. Auf den Straßen, aber mehr noch in den Köpfen unserer Zeitgenossen rumort es. Da will das politische Feuilleton nicht abseits stehen: Occupy Mainstream.
Eine Treibjagd auf unsere Wirtschaftsordnung ist in Gang gekommen. Als Anführer der Jagdgesellschaft tritt der Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Frank Schirrmacher, auf. Die moralischen Übereinkünfte der Nachkriegszeit seien im Namen einer höheren, einer finanzökonomischen Vernunft zerstört worden, schreibt er. Die Reaktion der Finanzmärkte und der politischen Eliten auf das angekündigte Referendum des griechischen Ministerpräsidenten seien "das Schauspiel einer Degeneration", weil die Demokratie sich Ratingagenturen und Finanzmarktinvestoren untergeordnet habe. "Demokratie ist Ramsch", so sein Diktum.
Auch der Philosoph Jürgen Habermas ist in Jagdstimmung. Er beschreibt in der Samstags-"FAZ" eine "von den Märkten kujonierte politische Klasse", deren Hauptdarsteller zwar noch am Leben seien, aber "an den Drähten der Finanzindustrie zappeln". Die Demokratie sei - siehe die angekündigte und wieder abgesagte Volksbefragung in Griechenland - auf den Hund gekommen: "Rettet die Würde der Demokratie", bläst Habermas in Schirrmachers Horn.
Warum eine Volksbefragung in einem kleinen Teil des Währungsgebiets demokratisch sein soll, derweil die anderen Teile, vornehmlich bewohnt von den gebenden Händen, nicht befragt werden, bleibt unbeantwortet. Wenn schon Demokratie, dann doch die richtige: Das Referendum müsste in allen 17 Nationalstaaten der Euro-Zone stattfinden, und auch die Inhaber der griechischen Staatsanleihen, die nun 100 Milliarden Euro Preisnachlass gewähren sollen, müssten befragt werden. Es geht ja nicht um das Privatvermögen von Josef Ackermann. Dessen Schäfchen grast bereits im Trockenen.
Wo Geld klingelt, da herrscht die Hure
Aber in Wahrheit geht es Schirrmacher und Habermas nicht um Griechenland und dessen Rettung. Sie verteidigen die Demokratie, um die Marktwirtschaft zu treffen. Die demokratische Empörung ist nur die Kugel, die sie auf "die Märkte" abfeuern. Im Zentrum der Treibjagd steht groß und dämonenhaft der "verwilderte Finanzkapitalismus" (Habermas). Es gelte, "das Primat des Ökonomischen" (Schirrmacher) zu erlegen.
Die These von der Kollektivschuld erfährt bei Schirrmacher und Habermas ihre zeitgemäße, weil ökonomische Interpretation. Die Märkte sind schuld. Sie erpressen, sie entmündigen, sie deformieren. Das neue Böse sieht aus wie ein Investmentbanker.
So kommt es zur Umdeutung der für das Funktionieren der Marktwirtschaft zentralen Kategorien. Leistungswille wird mit Gier übersetzt, Erfolg mit Unbarmherzigkeit, die Fortschrittsgeschichte der Marktwirtschaft, die aus Aufstieg und Fall, aus Versuch und Irrtum besteht und immer bestanden hat, wird umgeschrieben in eine Bedrohungssaga. Der Nihilist Friedrich Nietzsche erscheint nun als Seher, denn er hat es schließlich schon immer gewusst: "Wo Geld klingelt, da herrscht die Hure."
Dabei ist die Marktwirtschaft seit jeher ein höchst unvollkommenes System, das Ordnung, Stabilität und Vollkommenheit anstrebt, ohne sie je erreichen zu können. Sie ist ein natürliches Ungleichgewichtssystem, das von einer Instabilität zur nächsten stolpert. Die Balance zwischen Angebot und Nachfrage ist ihr Ziel, aber eben nicht ihr Zustand. Das wird ihr nun zum Verhängnis.
Schon Wilhelm Röpke wusste, dass die Marktwirtschaft die Voraussetzungen, die sie zum Leben braucht, nicht selbst hervorbringen kann. Sie ist schutz-, pflege- und permanent korrekturbedürftig. Sie ist ein Verfahren der Annäherung, kein Finalzustand. Weil alles unvollständig ist, auch die Information über die Märkte und die auf ihnen feilgebotenen Produkte, kommt es zu Marktunvollkommenheiten am laufenden Band. Die Marktwirtschaft selbst ist ein systemisches Risiko.
Marktwirtschaft und Kapitalismus sind nicht dasselbe
Ein Unterschied allerdings ist bedeutsam, der heute von vielen verschwiegen wird: Marktwirtschaft und Kapitalismus sind nicht dasselbe. Die Marktwirtschaft setzt auf den Wettbewerb, auf Miteinander durch Gegeneinander, auf Reibung, Austausch und Kooperation zwischen Kapital und Arbeit. Marktwirtschaft und Monopol sind zwei Begriffe, die sich abstoßen. Wer Marktwirtschaft sagt, der sagt auch Staat.
Wer Kapitalismus sagt, der sagt auch Staat, aber er sagt es in verächtlichem Ton. Er verlangt dessen Unterordnung. Sein heimliches Ideal ist die staatsfreie Zone. Er will die Gesellschaft aufspalten in ihre Atome, und weil er ahnt, dass ihm das nie ganz gelingen wird, versucht er, Staatlichkeit zu narkotisieren. Nur ein Staat, der vor sich hindämmert, ist für den Kapitalisten ein guter Staat. Erst eine Gewerkschaft, die sich als Nostalgieverein zum Gedenken verpasster Siege versteht, wächst ihm ans Herz.
Der Unterschied zwischen Kapitalismus und Marktwirtschaft wird am deutlichsten, wenn man auf ihren Umgang mit den Verlierern der Gesellschaft schaut. Der Kapitalismus kennt ihnen gegenüber keine Gnade, er sieht sich als das ökonomische Gegenstück zur jakobinischen Revolution, die auch keine Gefangenen machte. Beeindruckt von Stärke und Stringenz der eigenen Gedankenwelt herrscht im Kopfe des Kapitalisten eine urwüchsige Kopf-ab-Mentalität, in der Mitgefühl als Willensschwäche erscheint.
Die Marktwirtschaft ist deutlich bescheidener, sie kennt ihre Macken. Sie begreift sich als ein menschengemachtes Ordnungsprinzip, in dem staatliche Instanzen immer wieder eingreifen müssen, um Anarchie, Massenarmut und Monopole zu vermeiden. Der Marktwirtschaftler weiß um die Unvollkommenheit seiner Idee.
Auch die Marktwirtschaft lässt Verlierer zu, wie jedermann bestätigen wird, der die Wohn- und Schlafstätten des Prekariats besucht hat. Aber sie tut es in der festen Absicht, die Marginalisierten und Verlorenen in der nächsten Runde wieder am Spiel zu beteiligen. Schon aus Gründen der ökonomischen Effizienz will sie aus jedem Almosenempfänger einen Steuerzahler machen.
Geldhäuser und politische Elite halten einander Händchen
Doch für diese Unterschiede sind viele unserer Zeitgenossen nicht mehr empfänglich. Für sie sind Marktwirtschaft und Kapitalismus Zwillingsbrüder, weshalb der eine wie der andere keine Schonung verdient. Jene bildungsfernen Schichten in den Handelssälen der Investmentbanken, die außer Hörweite des Sozialen ihren Geschäften nachgehen, werden gleichgesetzt mit dem Unternehmer, der forscht, herstellt und verkauft, der sich um seine Mitarbeiter kümmert, als seien sie Teil der eigenen Familie. Und niemand fühlte sich berufen, den befleckten Ruf der Marktwirtschaft und ihrer Freunde zu verteidigen.
Viele Marktgläubige sind zur Staatsgläubigkeit konvertiert. Ihre Verehrung gilt nun einem ökonomischen Führerstaat, der reguliert und quotiert. Der aufteilt, zuteilt, umverteilt. Der weiß, wo es langgeht, oder zumindest so tut, der Lebensrisiken begrenzt, auch um den Preis, dass er Lebenschancen limitiert. Die unsichtbare Hand des Marktes, diese das vergangene Jahrhundert prägende Metapher des Adam Smith, wird durch die stählerne Hand des Staates ersetzt. Die soll richten, was die andere angerichtet hat. Der Instrumentenkasten, mit dem man einem freiheitlichen Wirtschaftssystem beikommen will, ist prall gefüllt. Regulierung ist das Codewort, das sich die Gegner der Marktwirtschaft zuraunen.
Wer nun glaubt, die Feinde der Marktwirtschaft säßen vor allem auf der Linken, täuscht sich. Da sitzen sie auch. Aber sie sind weitgehend als Romantiker enttarnt. Die wirklichen Feinde der Marktwirtschaft sind jene, die sich als ihre Freunde ausgeben. Aus ihrem Innersten heraus haben sie ein größenwahnsinniges Projekt gestartet, das sich mit der Überschrift "Geld schafft Geld" betiteln lässt. Der alte Zusammenhang, dass sich Geld in einer Art chemischen Reaktion durch den Zusatz von "Arbeit" und "Rohstoff" in eine Ware verwandelt, bevor diese ihren Mehrwert in einem Grande Finale wieder in Geld ausdrückt, sollte verkürzt werden. Die Geldindustrie versuchte, Geld aus Geld zu schöpfen, und hat damit der Marktwirtschaft den bisher empfindlichsten Schlag versetzt.
Hier haben Schirrmacher, Habermas und all die anderen Kritiker der real existierenden Marktwirtschaft das Argument auf ihrer Seite. Es kam zur Degeneration. Unübersehbar sind die Zeichen der Entartung. Das Treiben auf den Finanzmärkten dient, wie ja unschwer zu erkennen ist, nicht dem Wohlstand der Nationen.
Die Politik ist die heimliche Geliebte der Investoren
Aber wem dient es dann? Bei der Beantwortung dieser Frage verlieren die Kritiker das Argument gleich wieder, wenn sie wie Schirrmacher vom "Machtkampf zwischen dem Primat des Ökonomischen und dem Primat des Politischen" sprechen. Denn dieser Machtkampf ist eine Fiktion des Publikums, genährt, erweckt und aufrechterhalten von den Akteuren selbst.
In Wahrheit halten die Geldhäuser und die politische Elite einander Händchen. Die Banken halfen den Politikern, die Wachstumsraten der vergangenen Jahre zu kaufen. Derart mit Erfolgen ausgestattet, ging man auf Wahlkampftour.
Der heutige Staat ist ein Big Spender mit tiefen Taschen. Dass am Ende der tiefen Tasche sich ein Loch befindet, versucht er zu verheimlichen. Zwei Billionen Staatsschuld stehen in den deutschen Büchern. Ein Viertel davon ist allein in den Jahren unter Bundeskanzlerin Angela Merkel dazugekommen. Der Griechenland-Virus ist auch in Berlin heimisch.
Der Staat ist eben nicht Jungsiegfried, der uns vor dem Dämon Finanzmarkt rettet. Er ist selbst ein Doppelwesen, das tagsüber auf rotem Teppich wandelt, umbraust von Militärkapelle und Nationalhymne, um sich des Nachts im Schattenreich der Finanzmärkte neuen Nachschub zu besorgen. Von den dort regierenden Gesellen lässt man sich bereitwillig die moderneren Finanzmarktprodukte erläutern, das Leasing der Müllfahrzeuge, das Sale-and-lease-back der Sportplätze, das Hebeln von Staatsanleihen und die Devisenspekulation auf Optionsschein.
Noch im kleinsten Rathaus der Republik kommen diese Instrumente mittlerweile zum Einsatz. Und der einzige Grund, warum das so ist, ist die Großmannssucht des Staates, die sich aber eben nicht im Nehmen und Abknöpfen zeigt, sondern in seiner unverantwortlichen Großzügigkeit. Er ist süchtig nach Anerkennung. Aber er ist zu feige, wenn es darum geht, die Quellen seiner Großzügigkeit offenzulegen.
So erst kam der Kapitalmarkt ins Spiel. Er ist heute der große Ermöglicher von Politik. Und die Politik ist die heimliche Geliebte der Investoren. Auf die staatliche Gier nach mehr Kredit ist Verlass. Je schwieriger die Zeiten, desto gieriger ist der Staat. Der Kapitalmarkt fragt im Gegenzug nicht nach den Details. Er finanziert die Aufrüstung in Griechenland (gegen die zehnmal größere Türkei) mit der gleichen Nonchalance wie den Anti-Terror-Krieg der Amerikaner oder die steigenden Ausreichungen des deutschen Sozialstaates.
Gebe-Politiker und Gier-Netzwerke bilden eine Geheimloge
Die bunte Wirklichkeit unterscheidet sich also von der Schwarz-Weiß-Variante des Feuilletons doch erheblich: Die großzügige Sozialpolitik der vergangenen Jahrzehnte und die Exzesse an den Finanzmärkten sind die zwei Seiten der einen Medaille. Der Gebe-Politiker und die "giergesteuerten Netzwerke" (Peter Sloterdijk) der Banken bilden eine Art Geheimloge, deren Raffinesse darin besteht, dass man Hand in Hand arbeitet, ohne dass die Hände sich jemals berühren. Öffentlich bespottet, verachtet und bekämpft man einander, so dass niemand und schon gar nicht die Beteiligten selbst auf die Idee kämen, sie würden gemeinsame Sache machen.
In Wahrheit aber greifen die Aufkäufer von Staatsanleihen und deren Emittenten mit vereinten Kräften die Marktwirtschaft an, wobei jeder seine Attacke aus der dem anderen entgegen gesetzten Ecke reitet. Es ist ein Angriff ohne Angriffsplan, eine Verschwörung ohne Verschwörungstheorie mit dem nie verabredeten, aber gleichwohl konsequent verfolgten Ziel, der Marktwirtschaft und den ihr zugrundeliegenden Prinzipien den Garaus zu machen.
Beide treffen sich in der verschatteten Anonymität der Finanzmärkte, wo der eine gibt, was der andere nicht hat. Die Schuldenexzesse der Sozialpolitiker wären nicht denkbar ohne die dienstbaren Geister der Finanzindustrie, so wie die Geschäfte der Geldelite ohne die Maßlosigkeit der Sozialpolitik nicht halb so gut florieren würden.
Jetzt, da die Dinge auf einen unschönen Höhepunkt zutreiben, stellt sich der eine schützend vor den anderen. Die Politiker retten die Banken. Und zwar mit jenem Geld, das sie sich vorher bei den Banken geliehen haben. Der eine hebelt den anderen aus der Patsche. Dafür wird der dann rekapitalisiert. Das alles ist nicht Marktwirtschaft, sondern Verrat an ihren Prinzipien. Die Märkte sind nicht enthemmt, sondern außer Kraft gesetzt. Der letzte Tag, an dem die Marktwirtschaft funktionierte, war der Tag, an dem Lehman Brothers pleiteging.
Die öffentliche Aufarbeitung dieser unheilvollen Allianz von Bankern und Politikern, von Schuldenmachern und Kreditverkäufern wäre eine Debatte, die sich lohnte. Erst das Zusammenwirken dieser Allianz verwandelt die Welt in jenen düsteren Panikraum, in dem wir uns heute befinden. Rettet das Primat der Aufklärung, möchte man Schirrmacher und Habermas freundschaftlich zurufen. Es wird Zeit, dass einer das Licht anmacht.